Ein Vierteljahrhundert liegt zwischen den beiden Büchern, die nicht nur durch ein »Also« verbunden sind. In »Faserland« (1995) präsentierte Christian Kracht, als Vorsänger eines neuen Tons in der deutschen Literatur, den Abgesang auf das Klagelied der Böll, Grass, Walser, die mit guten Absichten die schlechten Verhältnisse in den Wohnküchen des alten Nachkriegsdeutschland bejammerten. In »Eurotrash« (2021) setzt er da an, wo sein erster Roman endete. Das Buch, als Road-Novel aufgezogen, beschreibt anhand einer Familiengeschichte das traumatische Erbe unserer Geschichte. Kracht gibt sich als schlichter Erzähler und erweist sich dabei als raffinierter Chronist.
»Also«, dort wo »Faserland« endet, beginnt der neue Roman: in Zürich, »der Stadt der Angeber und der Aufschneider und der Erniedrigung«. Krachts über 80 jährige Mutter, tablettensüchtig, alkoholabhängig, lebt dort und hat ihn gebeten zu kommen. Am Abend vorher liegt er im Hotelzimmer auf dem Bett und vieles geht ihm durch den Kopf. Sein Vater, dieser »enorme Machtmensch … ein kleiner drahtiger schmaler Mann mit wenig Haaren und hellgrauen Anzügen«, war Generalbevollmächtigter bei Axel Springer. Hinter den »wasserblauen Augen« verbarg sich »ein etwas verschlagener, listiger Filou«, der schon früh Christians Mutter verlassen hatte. Dieser Vater wollte später kein Grab, keinen Grabstein, nur »Stillschweigen und Auslöschung«. Er denkt an den Vater der Mutter, der ein strammer Nazi war, schon ganz früh wurde er Parteimitglied. Seine Tochter, Krachts Mutter, damals elf Jahre alt, wurde von dem örtlichen Fahrradhändler immer wieder vergewaltigt. Man ahnte es, konnte es wissen, aber die alten Parteifreunde hielten die Hand über ihn. Auch Kracht selber wurde in einem Internat missbraucht, was er 2018 in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung öffentlich bekannte und jetzt auch seiner Mutter erzählt, die lapidar meinte, sie habe es gewusst.
Am nächsten Morgen erscheint er bei seiner Mutter und denkt mit Schrecken daran, was ihm jetzt bevorsteht: endlose Gespräche mit endlosen Vorwürfen. Spontan sagt er zu ihr: »Wir werden jetzt zusammen auf eine Reise gehen, wir zwei.« Der Koffer ist schnell gepackt: ein paar Kaschmirpullover, die Ferragamo-Handtasche, drei Wodkaflaschen, Schlafmittel, Psychopharmaka, natürlich der Rollator und schon geht es los. Der Taxifahrer bringt sie zunächst zur Bank, wo sie 600.000 Franken abheben. Die Mutter stopft die bunten Tausend- frankenscheine in eine »Dingsbums, eine Plastiktüte«. Die Plastiktüte passt gut unter ihre Bluse, wo sie vor Dieben sicher ist und sich auch mit dem Plastikbeutel verträgt, der über ihrem künstlichen Darmausgang geklebt ist und auf der Reise für die Beziehung zwischen Mutter und Sohn eine nicht unwichtige Rolle spielen wird. Auf der Fahrt durch die Schweiz wird klar, dass die Mutter, obwohl physisch und psychisch schwer krank, die Richtung vorgibt. Sie hat da klare Vorstellungen: Edelweiß und Zebra sieht sie als Ziel ihrer Flucht. Auf einem Berg, auf dem Weg zum Edelweiß begegnen sie drei Inderinnen, die dort das Alpenpanorama bestaunen. Dem Sohn kommt der Gedanke, »dass der einzige Weg mit Geld vernünftig umzugehen war, es zu verschenken«. Das dicke Bündel, das er den verstörten Inderinnen hinhält, wird aber von einem plötzlichen Windstoß weggerissen und trudelt in die Schlucht. Die beste Verschwendung ist die Vernichtung. Das nächste Ziel steht an, also auf nach Afrika. Doch hier geht es den beiden wie Morgensterns Ameise. Wieder endet bald die Reise, in der Klinik, in der die Mutter schließlich versorgt wird.
Kracht, der Ich-Erzähler fragt sich, warum er selbst durch die ganze Welt gereist ist. Er war vor der kaputten Familie, deren Nazi-Vergangenheit geflüchtet und wundert sich, »wie es mir nur gelungen war, jemals gelingen konnte, mich aus der Misere und Geisteskrankheit herauszuziehen, die tiefer und abgründiger und elendiger nicht sein konnte«.
Die Mutter isst nur Fertiggerichte, »alles andere sei zu spießig«. Der Sohn behauptet, sie lese nur Klatschblätter. Das widerspricht der Tatsache, dass sie ständig Schriftsteller zitiert, darunter Marcel Beyer, der seinerzeit, als »Faserland« erschien, einen Roman über das Ende der Nazi-Herrschaft geschrieben hatte.
Der Sohn wiederum behauptet von sich: »Ich hatte das Gefühl, ich hatte mein Leben lang nur Plattitüden von mir gegeben.« Der Witz ist nur, das sich hinter den Plattitüden, hinter dem Ton, der alles, wie nur nebenbei gesagt, erklingen lässt, etwas verbirgt: komplexes Leben, auf dem Hintergrund unserer Geschichte.
Mitleid mit seiner Mutter hatte Kracht nie gehabt. Doch als sie sich auf der Reise nicht in ein Restaurant traute, weil sie das so lange nicht mehr gemacht hatte, empfindet er »ein tiefes, rasches, schneidendes Bedauern«. Am Ende der Reise gibt er sie wieder in der Klinik ab. Sie wird erwartet, und er fragt: »Mama! Wann sehen wir uns denn wieder?« »Bald«, antwortet sie.
Also.