Matthias Mückes nüchtern-nostalgischer Roman »Fernweh im Paradies«

Wer einmal einen Trauerzug in New Orleans erlebt hat, kennt auch die Stimmung vom Prenzlauer Berg, damals, als man anfing, die DDR zu Grabe zu tragen. Eine ausgelassene Trauer. Dissidenten als Künstler verkleidet. Künstler, die von ihrem Naturell her außerhalb standen, für ihre Sache lebten, sich um Geld kaum kümmern mussten, weil das Leben billig war und, vor allem, weil es eine Solidarität gab, die das Regime nur proklamierte, die dort aber gelebt werden konnte. Dort, am Prenzlauer Berg, löste sich die DDR von innen auf. Gelegentlich so paradox, dass die Stasi, die diesen Prozess verhindern sollte und wollte, ungewollt aber kräftig, für seine Beschleunigung sorgte. Auch das Unpolitische wurde politisch. Der Prenzlauer Berg wurde zum Mythos. Seine Strahlkraft reichte von Stralsund bis nach Sömmerda. Und Matthias Mücke wird zu seinem Chronisten.

Mückes erster Roman, »Niemandsland«, erzählt von seiner Kindheit. Er hört da auf, wo sein neues Buch »Fernweh« anfängt, am Prenzlauer Berg. Die Aufmachung, die an ein Jugendbuch erinnert, sollte aber nicht täuschen. Jedes der 21 Kapitel hat eine Ein-Wort-Überschrift und darüber eine, an ein Amulett erinnernde ovale Zeichnung. Und jedes Kapitel hat auch eine doppelte Bleistift-Illustration, die das malerisch ausdrückt, wovon das Kapitel handelt. Mücke ist hauptberuflich Maler und Zeichner, Grafiker und Restaurator. Sein Geld verdient er aber vor allem als Szenenbildner beim Film.
Dem spießigen Elternhaus in Pankow mit gehäkelten Tischdeckchen und Tropfenfänger an der Kaffeekanne, will der siebzehnjährige Ich-Erzähler so schnell wie möglich entkommen. So macht er sich auf zum Prenzlauer Berg, wo er von einer Susanne, die ihn »verzauberte«, eine Adresse erhalten hatte. So war es damals in der DDR, man kam immer unter. Immer dabei ist sein »Hirschbeutel«, ein selbst genähter Beutel, der aus dem Stoff von Omas Kissenbezügen hergestellt wurde, oft mit einem röhrenden Hirsch. In der damaligen DDR ein unerlässliches Outfit. Bei Edmund, Liedermacher und genialer Koch, kommt er unter. Der Erzähler machte eine Maler- und Lackiererlehre, die ihm all das abverlangte, was er eigentlich ungern macht: früh aufstehen, pünktlich sein, widerspruchslos gehorchen. Ein anderer Künstler, bei dem er zeitweilig wohnt, ist »der Indianer«, Anarchist und Philosoph, der mit vielen Katzen zusammenlebt.
So konnte man erwachsen werden, in den letzten Jahren der DDR, am Prenzlauer Berg, der zum Sehnsuchtsort vieler junger Menschen wurde. Hier hatte sich, unter den Augen der Stasi, doch nahezu völlig unberührt davon, eine Subkultur entwickelt, die aus Intellektuellen, aus Außenseitern, völlig durchgeknallten Typen, Künstlern, Schriftstellern und einer Art Heimwerkern bestand, die in diesem totalitären System außerhalb lebten. Unser Held suchte diese Szene – und fand sie. Für seine Mutter, die er sonntags aus Pflichtgefühl besuchte, »vegetiert« er »in einer schmuddeligen« Künstlerszene »nur mit schwulen älteren Männern«. Der Punkmusiker Gurke, inzwischen sein engster Freund, wird während eines Punkkonzerts von der Stasi festgenommen und landet in einem Jugendknast. Er ist ein anderer Mensch, als er nach über einem Jahr rauskommt. Gleichzeitig verschwinden viele seiner Freunde. Sie werden zur Nationalen Volksarmee eingezogen. Sie ziehen zurück in die Provinz. Viele hauen aber auch ab. Mit oder ohne Ausreisegenehmigung verlassen sie die DDR. Er hat das Gefühl, »alles bricht auseinander und jeder macht nur seinen Scheiß«. Die Menschen sehen hier keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr. »Die halbe Jugend der Republik hockte, bis der Haaransatz grau war, in ihren Kinderzimmern, um dann in eine Einraum-Platte zu ziehen«. Unser junger Mann bleibt, erhält sogar durch einen Trick eine Zweiraum-Wohnung, die er sich allerdings erst bewohnbar machen muss. Er gibt seine Malerlehre auf und wird Student an der Kunsthochschule. Aber oft »trinkt er sich den Abend schön«. Und immer wieder taucht plötzlich und unerwartet seine große Liebe Susanne auf. Sie verbringen eine Nacht miteinander, trinken »Stierblut« zusammen, dann verschwindet sie auch wieder, doch diesmal endgültig, natürlich in den Westen. In seiner Tasche trägt er ein kleines Buch von Edmund. Sein Freund wollte ihn damit an den »winzigen Abschnitt« in seinem Leben erinnern, »der mir endlos erschien«.
Matthias Mücke hat ein richtig schönes Buch geschrieben, ebenso realistisch wie (leicht) nostalgisch. Mit Zeichnungen illustriert, die einerseits in die Zeit passen, anderseits diese Zeit auch überzeugend spiegeln. Es ist ein Roman, der uns an einen Ort und in eine Zeit entführt, die zu Recht zum Mythos geworden ist. Eine Zeit des Widerstands und des Aufbruchs. Wer dieses Buch nicht liest, hat einfach was versäumt.

Sigrid Lüdke-Haertel
Matthias Mücke: Fernweh im Paradies. Roman. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2022, 208 S., viele Illustrationen, 22 €

Ein Kommentar zu “Matthias Mückes nüchtern-nostalgischer Roman »Fernweh im Paradies«”

  1. Ein ganz wunderbar sensibler (coming of age) Roman !!
    Auch den Folge-Roman „Scherbenland“ von Matthias Mücke (selbes hochwertiges Format) kann ich sehr empfehlen.

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