Joseph Roths kleiner Roman »Hiob« ist 1930 erschienen und beeinflusst von den leidvollen persönlichen Erfahrungen des in der heutigen Ukraine liegenden russischen Brody geborenen Juden. Um seiner 1929 in eine Nervenheilanstalt eingelieferte kranke Frau Friedl zu helfen, hat der damalige Starschreiber der Frankfurter Zeitung gar einen chassidischen Wunderrabbi konsultiert, ganz wie die Mutter des an Epilepsie leidenden zurückgebliebenen Menuchim, dem vierten Kind von Deborah und Mendel Singer in Roths großer Erzählung.
Der an die biblische Vorlage lehnende Roman erzählt die Geschichte der Familie des zutiefst gläubigen ostjüdischen Tora-Lehrers im ersten Fünftel des letzten Jahrhunderts und geht – aus heutiger Sicht – weit darüber hinaus, ein existenzielles Schicksal unter der Grundfrage der Theodizee aufzuzeigen. Er schildert die prekäre Lage der bald vom Terror der deutschen Wehrmacht wie dem Stalins heimgesuchten Ostjuden, die gesellschaftliche Ausgrenzung der religiösen Minderheit, ihre Flucht in die Emigration.
Josef Roth lässt uns erleben, wie der Fundamentalist Mendel Singer nach einem Trommelfeuer von Tiefschlägen seinen Glauben an Gott verliert. »Der Teufel ist gütiger«, rechtet er gen Himmel, nachdem die beiden Söhne an den Fronten des 1. Weltkriegs, die Frau im Schmerz, seine Tochter im Wahn zugrunde gehen. Um dann doch durch jenes Problemkind Menuchim gerettet zu werden, das die Familie bei ihrer Auswanderung in die Vereinigten Staaten in Russland zurücklassen musste. Der mit tiefen Bildern geschmückte, eindringliche Roman gehört mehr als alle anderen Werke Roths zu den Longsellern der Literatur und wird wahrscheinlich deswegen immer wieder auf der Bühne gezeigt. Zuletzt, vor Jahresfrist, von Johanna Wehner am Frankfurter Schauspiel in eigener Fassung als Stimmenpartitur, in der das Ensemble fern von religiösen Prämissen immer wieder die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, und nur allmählich in feste Rollen findet.
Die Inszenierung von Henriette Hörnigk in Wiesbaden greift auf die wohl meistgenutzte Theaterfassung des Belgiers Koen Tachelet zurück. Die hier mit Tom Stoppards «Die Küste Utopias« beeindruckende Regisseurin handelt den Stoff auf einer kahlen leeren Bühne zwischen mobilen Stellwänden ab, auf denen insbesondere im ersten russischen Teil des Erzählung vor unseren faszinierten Augen mit leichter Hand gezeichnete Landschaften, Dorfsiedlungen, Wohnungen entstehen. Später, in den USA, werden auch dokumentarische Schwarzweiß-Filmszenen und -Fotos projiziert: der New Yorker Hafen, Ellis Island, die Hochhauskulisse, die Mobilisierung und die Siegesfeiern. Unaufdringlich, aber melodisch grundierend begleitet die in einer leichten Vertiefung platzierte großartige Klezmer-Gruppe »i Giocosi« (Leitung Ako Karim) das Geschehen.
Wir erleben Mendel Singer (Uwe Kraus) als platzgreifenden Mittelpunkt mit Schläfenlocken und langem Kleid zunächst mit seinen Schülern, bald aber auch der Familie. Als die treibende Kraft im patriarchisch gesetzten Rahmen aber entpuppt sich seine Frau Deborah, die Anne Lebinsky als hagere, harte Kämpferin in Szene setzt. Mit heimlich ersparten Kopeken sorgt ihre Deborah dafür, dass wenigstens dem Sohn Schemarjah die Flucht vor dem Kriegsdienst gelingt. Selbstlos und körperlich verzehrend kümmert sie sich um die Krüppel-existenz des von den eigenen Geschwistern gehassten Menuchim, ohne dafür Mendels Anerkennung oder gar Liebe zu erfahren. Richtig klug werden wir aus diesem selbstgerechten Mann nicht, der seinem kranken Kind die ärztliche Fürsorge verweigert, aber seiner leichtlebigen Tochter Mirjam (Florenze Schüssler) wegen mit der Familie nach Amerika zu Schemarjah (Lukas Schrenk) zieht, der dort Sam heißt und Karriere gemacht hat, während es seinen Bruder Jonas (Christoph Kohlbacher) schon früh zu den russischen Reiterregimenten zieht. Beeindruckend aber vor allem: Lina Habicht als das die Welt mit aufgesperrten Augen bestaunende Kind Menuchim.
In den USA, die sich Mendel vielleicht als »Gods own land«, gewiss aber nicht das gelobte zu erkennen geben, beherrscht der hier fremd bleibende Protagonist fast allein das Spiel. Deborah erlebt nur noch ein kurzes modisches Aufblühen, um dann ganz zu verlöschen und Schüttlers haschige Mirjam bleibt zwischen Sucht und Suche nach Liebe auf der Strecke. Mendel aber fällt nun scheinbar endgültig vom Glauben ab, bis zur scheinbaren Wiederkehr des totgeglaubten Sohnes Menuchim. Doch ist dem auch so? In der erleuchteten Bühnenmitte gibt Lina Habicht den angeblich zur internationalen Berühmtheit avancierten Komponisten als eine statuenhafte Erscheinung, ein Traumfigur oder gar Halluzination. Einen optimistischeren Schluss hätte dieser zwiespältige Hiob auch nicht verdient, er rundet einen erlebnisreichen und erlebenswerten Theaterabend.