»Das Verschwinden der Erde« von Julia Phillips

Dieser Roman, für den National Book Award nominiert, als literarischer Thriller tituliert,
rund um die Welt verkauft und für die New York Times eines der zehn besten Bücher des Jahres 2019, ist kein konventioneller Kriminalroman, sondern ein Bernsteinstück, nach stürmischer Nacht an einem wilden Strand gefunden.

Was darin eingeschlossen ist, verändert beim Betrachten ständig die Kontur, bleibt Geheimnis – und offene Form. Wenn die »hohe« Literatur sich des Krimigenres annimmt, kann das ganz schnell peinlich und gruslig altbacken werden, Sibylle Lewitscharoffs Katzenkrimi »Killmousky« etwa und 20 weitere Bücher zum Fremdschämen fallen mir ein, »Das Verschwinden der Erde« von Julia Phillips aber ist kein solcher Fall. Dieser Roman bereichert das Genre, bereichert die Literatur. Man muss ihn nicht als Kriminalroman klassifizieren, aber es ist klar Literatur, die das Genre referenziert. Thema ist »das Private« eines solchen Kriminalfalls, ist der Schatten, den er wirft. Und das Politische dieses Privaten ist die Gewalt gegen Frauen, die hier in allen Spektralfarben schillert. Der Romankern ist Konvention: Es gibt eine Entführung, es gibt Hinterbliebene und Neugierige, einen Ermittler und sehr viel Ort, die Halbinsel Kamtschatka im hintersten Winkel Russlands, nur über die See und auf keinem Landweg erreichbar.

An einem Sommertag im August verschwinden zwei Mädchen, die Schwestern Aljona und Sofija, elf und acht Jahre alt. Sie steigen in ein fremdes, schwarzes Auto, werden nie wieder gesehen. In elf Kapiteln, Monat für Monat, vom tragischen August bis zum Juli des nächsten Jahres, folgt der Roman diesem Ereignis. In jedem Kapitel steht eine andere Frau im Mittelpunkt. Dem Polizisten Kolja begegnen wir »richtig« erst im April, acht Monate nach der Entführung, und zwar, wie er sich beim Frühstück für den Dienst fertig macht. Dann sind wir mit seiner Frau Sonja alleine, das ganze Kapitel lang. Mit ihren Phantasien, mit ihrem Leben, mit ihrer Realität, mit der Gewalt, von der sie zum Teil sexuell phantasiert. »Hallo, Fräulein, wird der Migrant sagen. Beim Klang seiner Stimme wird ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen … Sie wird auf die Hütte zeigen. Nimm mich mit da rein, wird sie sagen.«

Das Verschwinden der Erde, der bebende Boden unter den Füßen, das sind die sublimen Schockwellen der Erschütterung, die der Entführungsfall quer durch die Gesellschaft der Halbinsel treibt. Nicht alles davon ist klar zu benennen und eindeutig, vieles bleibt atmosphärisch – darin ist Julia Phillips ganz großartig. Das gilt auch für ihren »sense of place«, das wilde Kamtschatka, wo sie ein bereicherndes Jahr ihres Lebens verbracht hat und uns davon schenkt. Was für ein Debütroman, »von Russland inspiriert und in Amerika geschrieben«, so die Autorin. Bernstein-Klasse.

Alf Mayer (Foto: © Nina Subin)

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde (Dissappearing Earth, 2019). Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda. dtv, München 2021. Hardcover, 376 Seiten, 22 Euro.

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