Dieser Stadt fehlt die Demut
Was wusste Raymond Chandler von Los Angeles? Wir alle sind uns sicher: eine ganze Menge. Dieses Chandler-Gefühl, dass da ein Autor mit präzise bösem Strich das Bild einer ganzen Stadt auf die Seiten wirft, dieses leider doch ziemlich seltene Gefühl, das hatte und genoss ich beim Langstreckenflug nach Perth, Hauptstadt des Bundeslandes West Australia. Ich hatte es, weil ich im Flieger David Whish-Wilson las. Seine scharf geschliffenen, elegant-kühlen, noiren hardboiled-Romane lesen sich, wie Chandler über Los Angeles geschrieben hätte, wäre er ein wirklich politischer Kriminalautor gewesen. Whish-Wilson ist es. Über Perth weiß er mehr als Chandler an L.A. interessierte, das hat er mit seinem brillant-luziden Stadtporträt »Perth« (300 Seiten) bewiesen.
Diesen Australier nun hier bei uns begrüßen zu können, ist ein Gewinn für die Kriminalliteratur. Er ist ein kosmopolitisch gewandter, wacher Beobachter der Zustände in seinem Land, hat sich mit dessen Kolonial- wie Korruptionsgeschichte auseinandergesetzt, ist zehn Jahre durch Europa, Afrika und Asien gezogen (»bumming around« nennt er es), hat als Barkeeper, Schauspieler, Straßenverkäufer, Gärtner, Lehrer, Kammerjäger gearbeitet.
Das Stadtmotto von Perth lautet »Floreat«, lateinisch für »Sie möge gedeihen«. Es passt. Wie die Faust aufs Auge. Karl Marx war die ehemalige Strafkolonie einen Eintrag im »Kapital« wert, wo ihm die »Swan River Mania« und das damalige Besiedlungsfieber Exempel dafür sind, was geschieht, wenn der Kapitalismus seine Kohorten nicht unter Kontrolle hat (Kap. 25; es lohnt die ausführlichere englische Version). Bis heute schreibt dieses Phänomen sich mit Deregulierung und der großflächigen, rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen fort. Der erste Bau in der Swan-River-Kolonie war ein Zuchthaus gewesen, erinnert die Hauptfigur in den »Ratten von Perth«, der Polizist Frank Swann, sich einmal: »Und als die freien Siedler es nicht schafften, wurde die ganze Kolonie in ein Freiluftgefängnis verwandelt, bevölkert mit nichts als Verbrechern, Gaunern und Gesindel.«
Im CBD, dem Central Business District von Perth, überragen heute die Hochhäuser der Minenkonzerne alles andere. Meile um Meile, als wäre es eine neue monströse Sorte von Schmeißfliegen, ziehen sich die Villen der »Millionaires Row« den Swan River entlang Richtung Meer. Eigentlich unvorstellbar, dass für so viel Geld so protzig und zugleich eng aneinandergebaut wird wie hier. »Wir brauchen dringend eine Depression«, sagte mir der Taxifahrer, der mich vom Flughafen in die Stadt fuhr, »damit die Verhältnisse eine Chance haben, wieder einigermaßen ins Lot zu kommen. Dieser Stadt fehlt die Demut.«
Als Ausgangspunkt für »Die Ratten« – den ersten Band einer Trilogie – hat Whish-Wilson sich einen geradezu archimedischer Punkt gewählt. Nämlich einen historischen Kriminalfall vom 22. Juni 1975: die wie eine öffentliche Hinrichtung inszenierte Exekution von Shirley Finn, der stadtbekannten, bestens vernetzten Chefin eines Luxusbordells. Vier Schüsse in den Hinterkopf, eine »Bowlingkugel«-Exekution. Die Leiche auf dem Royal Perth Golf Club zur Schau gestellt. Die Tat nie aufgeklärt. Bei Whish-Wilson heißt die Tote Ruby Devine, mit vielen Fakten bleibt er nah an der Realität.
»Die Königin der Nacht, viermal in den Kopf geschossen. Die Nachricht war keine Woche alt, und schon kursierte das Gerücht, Ruby sei von der Polizei umgebracht worden.« So hebt das Buch an, wir begegnen Swann, wie er als angefeindeter Zeuge im Gerichtssaal einer Königlichen Untersuchungskommission zur Prostitution im Bundesstaat sitzt und binnen weniger Seiten der Rahmen der Geschichte abgesteckt wird. Frank Swann ist mächtig unter Druck. Früher hatte er das Sittendezernat geleitet, mit dem Milieu kennt er sich bestens aus, kennt auch die Ermordete aus seiner Zeit in der Minenstadt Kalgoorlie. Er hat Namen genannt, hatte sich öffentlich über eine Gruppe von Polizisten geäußert, die über die Verbrecherbosse im Bundesstaat Western Australia ihre schützende Hand halten. Seine Glaubwürdigkeit als Zeuge wird systematisch unterminiert, die Polizeigewerkschaft hat es abgelehnt, ihn zu vertreten, und dann ist auch noch seine Tochter Louise verschwunden, angeblich wurde sie zuletzt zusammen mit der ermordeten Puffmutter gesehen. Vielleicht wurde sie entführt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er hat Albträume, was sie ihr getan haben können. Sie wieder zu finden, damit vielleicht auch die Mörder der Bordellchefin, und am Leben zu bleiben für die Aussage vor der Untersuchungskommission, das sind die Spannungsbögen des realitätstüchtigen Buches. Es ist blendend geschriebenen. Kühl, aber nicht unemotional, ein grimmiges Glühen, eine Unerbittlichkeit im Erzählstrom. Ohne Pose, ohne Fett oder Schnulze, mit Gefühl für Timing, Licht und Schattenwurf. Tolle Prosa, lakonisch und elegant. Fein abgewogen. Präzisionsarbeit. Klug, erdig, erwachsen.
1975, Wirtschaftswunder-Zeit in Westaustralien. Heroin ist die neue Droge in der Stadt. Wer Ellbogen hat, sucht freie Bahn für seine Geschäftsinteressen. Es geht um Akkumulierung, um Einfluss und Macht. Immer noch das alte, von Marx konstatierte Fieber. »Es ist, als wären wir wieder in der Kolonialzeit, wieder ganz am Anfang. Es ist die Zukunft, aber nichts Neues. Das wurde alles schon mal gemacht«, heißt es in den »Ratten«.
Whish-Wilson zersägt den Gründungsmythos: »Der Mord an der Bordellbetreiberin war ein Zeichen dafür, wie es zukünftig in der Stadt aussehen würde, obwohl die Historiker dazu vermutlich eine andere Meinung haben würden … In ein paar Jahren weiß niemand mehr, dass diese großkotzigen Reichen mal Heroindealer waren. Mit ihrem Startkapital können sie sich Unternehmen kaufen, die von ihren neuen Kumpels in der Regierung eine Vorzugsbehandlung bekommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre eigenen Banken aufmachen, um auch alles selbst zu finanzieren. Dann kriegen sie die richtig großen Infrastrukturprojekte, und damit lassen sie das alte Geld wirklich alt aussehen. Sie kaufen sich Zeitungen und Fernsehsender, und dann liebt die Politik sie gleich noch mehr. Und im Norden geht es grad erst los. Das ganze Eisenerz. Die Diamanten. Das Gold. Na, was denkst du, wer wird dabei zum Zug kommen?«