Der bittere Blick des Marc Chagall

»Welt in Aufruhr« – in der Schirn

Nicht mehr und nicht weniger als eine unbekannte Zuordnung vorzunehmen hat sich die Schirn in ihrer neuesten Ausstellung vorgenommen: Marc Chagall blickt bitter. Er blickt nicht zärtlich, nicht verspielt, nicht fantasie-, symbol- oder traumgesättigt auf schwebende Jungfrauen und vom Himmel fallende Blumensträuße oder sanftäugige Kühe.
Chagall hat seine traumgeborene Symbolik auch überführt in ganz andere Kontexte. Die Kuratorin Ilka Voermann, die Anfang des Jahres die exquisite Schau »Kunst für keinen« verantwortet hat, nimmt zum Ausgangspunkt das biblische Alter von fast hundert Jahren, das der französisch-russische Maler erreicht hatte, und rückt einen Schaffenszeitraum ins Licht, der durch das dunkelste Kapitel seines Lebens leitet – den von 1930 bis 1948. In dieser zeitlichen Konzentration gelingt der Schirn und ihrer Kuratorin Außerordentliches: eine berührenderes Lebenszeugnis des jüdischen Chagall zu schaffen ist kaum denkbar als dieses. Und es ist gleichzeitig ein hochaktuelles: Es geht um Flucht, Vertreibung, um Leid, die unauslöschliche Sehnsucht nach dem Verlorenen, um Heimat, um das suchende, stets mit wehem Gemüt begleitete Einrichten in ein neues Leben, als Geretteter, der das Glück hatte, mit seiner Frau und seiner Tochter in die USA fliehen zu können, Aufträge zu bekommen, vom Licht der Côte Azur umflossen und inspiriert zu werden. Er hat – und das sieht man hier überdeutlich – aber auch seine Heimat in Witebsk nie verlassen, seinen weißrussischen Heimatort, den er gemeinsam mit seiner Frau Bella 1922 verlassen musste. Zunächst geht er nach Berlin. Witebsk aber taucht in fast jedem seiner Gemälde auf, wie eine Schneekugel inmitten anderer geduckter dunkler Häuser, wie ein verkapselter Bote aus einer anderen, aber der eigentlichen Welt. Und sie ist ja seine eigentliche, seine Identität, denn es ist der Ort, dem er entstammt.
Eingeteilt in sieben offen gehaltene Kapitel, die stilistisch und inhaltlich miteinander verwoben sind, bricht einzig und allein die Präsentation Chagalls als Szenen- und Kostümbildner für Strawinskys »Feuervogel« in New York aus diesem Kontext heraus, ist aber wohl gewählt, denn es folgt als Kapitel Fünf dem »Engelssturz«, Chagalls wohl eindrücklichstem Gemälde zur Zeitgeschichte, seinem Kulminationspunkt, auf welchen die Ausstellung förmlich hinarbeitet. Und so weist seine Arbeit an dem »Feuervogel« in die Zukunft, verweist auf die Verbundenheit in seinem russisch-jüdischen Kreis in New York, bringt einen anderen Aspekt von Chagalls Arbeit ins Spiel, etwas Luftigeres, Leichteres, seine Arbeit am Theater, dem er sich stets verbinden fühlt, seit er 1920 für das Jüdische Kammertheater in Moskau Szenenbilder und Prospekte schuf.
»Welt in Aufruhr« hat die Schirn die Ausstellung genannt. Das erste – prophetische – Bild »Einsamkeit« zeigt einen nachdenklichen, melancholischen Juden in seinen weißen Umhang, die Arme schützend um gerettete Thorarollen geschlossen. Eine Kuh ruht an seiner Seite, Geige und Engel schweben über einer fernen Dorfkulisse. Das Bild entstand 1933 als Antwort auf Hitlers Machtübernahme, und es nimmt nicht nur die folgende Vertreibung der Juden vorweg, es schildert exemplarisch die Vertreibungen aller Juden. Zu diesem Zeitpunkt verankert Chagall seine Arbeiten verstärkt in jüdischer Geschichte und Erzählungen. 1931 reist er nach Palästina, um einen Bibelzyklus zu zeichnen, von dem die Schirn einige Illustrationen zeigt. Er malt auch die Klagemauer in Jerusalem und die Innenwelten der besuchten Synagogen, z.B. in Safed ganz ohne Symbolik. Da wohnt er längst schon in Paris, nachdem er Berlin wegen des unerträglichen Antisemitismus in Deutschland verlassen hat, was aber – ebenso wenig wie New York, in das er 1941 emigriert – nur spärlich Eingang in seine Bilderwelt gefunden hat.
Zeitgleich taucht das Motiv des gekreuzigten Jesus vermehrt in seinen Gemälden auf. Sein Jesus wirkt feminin, er hat breite Hüften, die in einen Gebetsschal eingehüllt sind, und mit Gebetsriemen an den Armen und auf dem Kopf verbindet Chagall christliche Ikonografie mit jüdischen Symbolen. Sein Jesus ist ein jüdischer Märtyrer und er wird – wie in der 1945 entstandenen Gouache »Apokalypse in Lila, Capriccio« von einem Nazischergen bewacht, prophetisch umrahmt von Szenen der Flucht, des Sterbens, von wüstester Vertreibung, von Flüchtlingsschiffen, in Strichen schnell skizziert. Und trotzdem, diesem Jesus wohnt etwas Sinnliches inne. Auch in seinem 1947 in den USA entstandenen »Selbstbildnis mit Wanduhr«, das ihn selbst (in einem später folgenden Kapitel der Ausstellung) mit weichen, femininen blauen Zügen zeigt, schmiegt sich eine bräutlich gekleidete Maria (Magdalena?, Bella?) zärtlich an den Gekreuzigten.
Bella, immer wieder Bella – die schöne, große Liebe des Malers verdient in der Schirn ihr eigenes Kapitel. Ihren Tod hat er in dem Bild »Um sie herum« aus dem Jahr 1945 verarbeitet, das sie in ihrem wunderbaren roten Kleid mit Spitzenkragen zeigt, und ihn, kopfüber am anderen Rand des Bildes, dazwischen erneut die Schneekugel Witebsk. Mit Bella, das ist klar, hat er auch ein Band in seine Vergangenheit verloren, in die gelebten und geteilten Erinnerungen.
Im Mittelpunkt der Ausstellung und sein programmatisches Zentrum ist das großformatige Gemälde »Engelsturz«, an dem Chagall jahrzehntelang gemalt hat. Von 1923 bis 1947 hat er es immer wieder neu gewichtet, die Akzente verschoben; es gilt zweifellos als seine präziseste und schonungsloseste Anklage gegen Krieg, Vernichtung und Rassismus. Der vom Himmel stürzende, weibliche Engel ist in ein glühendes Rot getaucht, schaut mit vor Entsetzen aufgerissenem Auge auf die sich verdunkelnde Erde, an deren Rand eine Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm ist zu sehen ist und auch ein flüchtender Rabbi mit Thorarollen. Eine brennende Kerze und eine kleine Sonne glühen nebeneinander im Zentrum des düsteren Geschehens.
Und doch verliert Chagall nie seine unverwechselbare Poesie, seinen Blick für Schönheit in all diesen 60 Gemälden, die in der Ausstellung zu sehen sind. Die spazierende »Kuh mit dem Sonnenschirm« unter einer nun wieder recht glühenden apfelsinenfarbenen Sonne geleitet den Zuschauer aus diesem Chagall-Kosmos hinaus in die Welt. Ehrlich – einen gelungeneren (chagalleskeren?) Abschluss dieses Parcours kann man sich kaum vorstellen.

Susanne Asal
Foto: Marc Chagall, Die Kuh mit dem Sonnenschirm, 1946, The Metropolitan Museum of Art, Nachlass von Richard S. Zeisler, 2007
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: bpk/The Metropolitan Museum of Art
Bis zum 19. Februar: Di., Fr.–So., 10–19 Uhr; Mi., Do., 10–22 Uhr
umfangreiches Begleitprogramm
www.schirn.de

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