Als der Autorin Annie Ernaux in diesem Jahr der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, traf dies auf allgemeine Zustimmung in Feuilletons und Kultursendungen. Sie sei eine der profiliertesten literarischen Stimmen Frankreichs und die Auszeichnung längst fällig, hieß es. Jetzt bietet sich im Kino – auch für diejenigen, die noch kein Buch von ihr gelesen haben – die Möglichkeit, von 1972 an neun Jahre ihres Lebens in Wort und Bild Revue passieren zu lassen.
Ihr Ehemann Philippe Ernaux kaufte im Winter 1972 eine Bell & Howell Super-8-Kamera, um das Familienleben zu dokumentieren. Er wollte Szenen aus dem den Alltag in Frankreich aufnehmen, mit seiner Frau und den beiden kleinen Söhnen, aber auch Eindrücke von gemeinsamen Reisen in andere Länder sammeln.
Weil er die Kamera geführt hat, steht in den entstandenen Filmen seine Frau im Focus. Als Lehrerin sieht man sie zunächst nur nebenbei beim Schreiben von Texten und verschämt, wenn sie dabei gefilmt wird. Zu Hause ist sie in der Regel mit ihrer Mutter, die bei der Familie wohnt, mit Hausarbeit und ihren Kindern beschäftigt.
Aus den Filmrollen hat sie zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot einen Dokumentarfilm montiert, der bereits bei den Filmfestspielen von Cannes im Mai 2022, also vor der Bekanntgabe des Nobelpreises, seine Premiere hatte.
Die stummen Bilder, die sehr sachte mit leisen Geräuschen unterlegt sind, wären ohne den autobiografischen Text von Annie Ernaux ein privates Dokument, das nur in sehr begrenztem Maß öffentliches Interesse wecken dürfte. Bei einer internen Familienvorführung des Ausgangsmaterials nahm sie 2016 Kommentare auf, um eine Familien-erinnerung zu schaffen.
Eine besondere Qualität gewinnt die jetzige Zusammenstellung durch die Kommentierung der Literatin. Einfühlsam und in einer klaren Sprache schildert sie die Jahre, die ihrem literarischen Durchbruch vorausgehen. Mehrmals wird der Wohnort gewechselt, ihre Ehe beginnt zu kriseln. 1982 verlässt ihr Mann, der später an Lungenkrebs sterben wird, mit seiner Filmkamera die Familie. Die belichteten Filmrollen bleiben zurück. Sie habe die Gewissheit gehabt, sagt sie heute, »dass diese Bilder einen wichtigen Abschnitt meines Lebens festhalten: meinen Einstieg ins Schreiben.«
Besonders interessant sind ihre Erinnerungen zum politischen Klima der 70er Jahre. Sie ist enttäuscht, dass François Mitterrand die Präsidentschaftswahl verliert. Als Linke interessiert sie sich für Albanien, fühlt sich allerdings bei einem Besuch ständig kontrolliert und eingeschränkt. Man habe sie und ihren Mann wohl für Agenten gehalten. Fasziniert ist sie von Moskau, schwärmt in ihrem Kommentar von Russland, vielleicht auch etwas verhaltener als sie seinerzeit gedacht haben mag. England bezeichnet sie hingegen als das exotischste aller Nachbarländer.
Zufällig kommt im Januar mit »Passagiere der Nacht« ein französischer Spielfilm in die hiesigen Kinos, der die 80er Jahre wieder auferstehen lässt. »Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre« geht noch ein Jahrzehnt zurück, bringt uns diese fremd gewordene Zeit auf eine persönliche Weise sehr nahe. Annie Ernaux fügt damit ihren autobiografischen Büchern ein weiteres Werk in einem anderen Medium hinzu.