Rachel Cusks neuer Band »Coventry«

Sind es Erzählungen? Sind es, wie das Titelblatt verkündet, tatsächlich »Essays«? Oder ist es irgendetwas dazwischen? Etwa mit Überlegungen angereicherte Geschichten, kleine Familiendramen, häusliche Tragödien? Oder Gedanken, die erzählt werden. Rachel Cusk, die kanadisch-amerikanisch-englische Autorin, die zumindest zeitweise auch auf der anderen Seite des Kanals, in Frankreich, lebt, nennt ihr neues Buch »Coventry«. Und darum geht es.

Jemanden »nach Coventry schicken« heißt im Englischen so viel wie jemanden durch Missachtung strafen, ignorieren oder ausgrenzen. Es sei »eine gezielte Bestrafung mittels Rückzug«. Rachel Cusk hat als Kind und junges Mädchen diese leidvolle Erfahrung mit ihren Eltern gemacht, die in ihr eine Unruhestifterin sahen: »Sie wollen Macht ausüben, doch ich habe begriffen, dass ihr Schweigen das Gegenteil von Macht ist.« Die Redewendung erinnert (auch) an das von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerbombte Coventry.
Cusk geht immer von eigenen Erfahrungen aus, die sie versucht zu verallgemeinern. Und an eigenen Erfahrungen hat sie einiges zu bieten. Sie ist Mutter von zwei Mädchen, hat sich von ihrem Ehemann getrennt und die Kinder viele Jahre lang allein aufgezogen. Sie musste Geld verdienen und, fast kurios, zeitweise auch noch »Unterhalt« an ihren einstigen Ehemann bezahlen. Sie war ständig hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Anforderungen, die sie gleichzeitig erfüllen musste. In ihrem Urteil ist Cusk teilweise gnadenlos radikal. Ihre Mutter ist eine sprachlose, ungebildete Frau, eine »Tyrannin«. Um sie zu stürzen, »waren Worte meine Waffe«. In einem anderen Essay, »Autofahren als Metapher«, macht sie erstaunliche Beobachtungen. Ein Stau lässt sich einmal als Hindernis, dann aber auch als Kunstausstellung interpretieren. »Geht man zu Fuß an einem solchen Stau vorbei, wirkt die lange Reihe aus menschlichen, karosseriegerahmten, hinter Windschutzscheiben gefangenen Gesichtern so beeindruckend wie das Werk eines Porträtmalers.« Witzig und überzeugend sind ihre Beobachtungen über die Hintergründe bei Überholmanövern, wie sie Menschen verändern und aus friedlichen äußerst aggressive Zeitgenossen machen. »Sobald man im Auto sitzt, darf man die Personen außerhalb des Autos bewerten und ihr Aussehen und Verhalten mit einer in anderen sozialen Situationen undenkbaren Schamlosigkeit kommentieren.« Cusk kann ihre Beobachtungen präzise beschreiben. In dem Essay »Löwen an der Leine« schildert sie ihre Erfahrungen mit ihren pubertierenden Töchtern, die , wie sie meint, so kompliziert wie eine Ehescheidung sind. Auch in ihrem Bekanntenkreis häufen sich Erzählungen von »Gebrüll, Beschimpfungen und zugeschlagenen Türen, von Schulversagen, Heimlichkeiten, Unehrlichkeit, von Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, sexueller Frühreife und Depressionen«. Cusk versucht diese Probleme mit Verständnis und auch Humor zu nehmen, keine unkluge Strategie zur Bewältigung solcher Probleme. Ihre Geschichten sind teilweise höchst pointierte Beschreibungen von alltäglichen Begebenheiten, die oft das Zeug zur Tragödie haben, aber meistens vom Alltag wieder eingefangen werden. Solche Erfahrungen werden erzählt. Deshalb scheint es auch müßig, nach klaren Abgrenzungen zwischen ihrem erzählerischen Werk und ihren Essays zu suchen. Cusk hat ein knappes Dutzend Romane veröffentlicht, aber auch einige sogenannte Essay-Bände.
In der Geschichte »Danach« rechnet sie mit ihrem (ehemaligen) Ehemann ab. Aber auch mit sich selbst. Sie kann sehr bissig werden. Und sehr witzig dazu. Es sind keine Emanzipationsgeschichten, aber doch die Beschreibungen einer Frau, die auch kämpfen kann.
Also: ganz gleich, ob Essays oder Geschichten, allemal lesenswert und oft originell dazu.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Siemon Scamell-Katz
Rachel Cusk: »Coventry«. Essays.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 160 S., 21 €

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