Andres Müry, in Basel geboren, seit 20 Jahren Wahl-Österreicher, war etliche Jahre Dramaturg an verschiedenen deutschen Bühnen, er war Theaterkritiker und Kulturjournalist. Jetzt, sein Haar ist leicht schütter und sichtbar grau geworden, legt er, wie einige seiner alten Kollegen, sein erstes Prosabuch vor.
Die Vergangenheit sei nicht tot, sie sei nicht einmal vergangen, hatte William Faulkner in seiner Nobelpreisrede behauptet und dies auf die Geschichte (der Südstaaten) bezogen. Andres Müry hätte die Behauptung als Motto vor seine vier »Stories« setzen können, mit denen er jetzt als Erzähler debütiert. Er hat sich anders, nämlich für Milan Kundera entschieden: »Die Liebe mit der Sexualität zu verbinden, war einer der bizarrsten Einfälle des Schöpfers.« Es sind schicksalhafte Begegnungen, von denen er erzählt. Liebe und Leidenschaft, Verrat und Betrug. Als junge Leute haben sich seine Figuren kennengelernt. Sie haben sich geliebt und betrogen, sie sind auseinander gegangen und treffen sich nun, Jahrzehnte später, zumeist zufällig wieder, um endlich mit der Vergangenheit Frieden zu schließen oder alte, offene Rechnungen noch zu begleichen.
In der titelgebenden Erzählung erkennt Volker, der Ich-Erzähler, in einem Schaufenster in Wien den Namen der Malerin Rebekka Jakobson. In der Galerie hängt ein großes Gemälde, es stellt eine Art „religiöser Travestie“ dar, auf der die Gesichter von vier Personen deutlich zu erkennen sind. Volker erkennt sich und auch die anderen drei. Vor vierzig Jahren, mit Mitte zwanzig, hatten er, seine Freundin Klara, Rebekka und deren Freund Beat, Ferien auf einem Hof nahe Linz verbracht. Sie machten gemeinsame Ausflüge, gingen Pilze sammeln, spielten Karten, nur über ihre Probleme sprachen sie nicht, schon gar nicht über die sexuellen. Als Volker und Rebekka sich heimlich treffen, erleben sie, wie unkompliziert Sex sein kann. Dann verunglücken Beat und Klara tödlich auf einem geliehenen Motorrad. Volker und Rebecca fühlen sich schuldig. Sie gehen auseinander.
Angeregt durch das Bild macht Volker die Malerin ausfindig und trifft sie in ihrer Wohnung. Beide waren, unabhängig voneinander, erst vor kurzem noch einmal in diesen Ferienort zurückgekehrt und hatten von den Geschwistern der Toten einiges über die Hintergründe des Geschehens erfahren.
In der zweiten Erzählung treffen sich zwei ehemalige Schauspielschüler aus Berlin zwanzig Jahre später in Wien wieder. Beide hatten damals ein Stück eingeübt und sich in der Nacht vor ihrem Auftritt ziemlich zugeschüttet. Detlef versuchte auch noch, Harry zu verführen, der daraufhin angewidert aus Berlin verschwand und nie mehr von sich hören ließ. Harry machte Karriere, Detlef scheiterte mehr oder weniger und versucht jetzt, Theaterstücke zu schreiben. In dem Hochhaus, in dem sie sich begegnen, möchte Harry vor seinem Theaterauftritt in einem »Massagesalon« noch ein bisschen relaxen. Detlef wohnt in dem Haus mit Frau und Kind. Kaum hat sich Harry wieder angezogen, fällt Detlef in den Salon ein, um Harry zu zwingen, sein Theaterstück zu lesen, er will ihm beweisen, dass er mehr ist als ein versoffener Loser. Aber Harry kann sich verteidigen. Die chinesischen Liebesdienerinnen kreischen, als die Rückenlehne eines Sofas sich Detlef in den Unterleib bohrt. Mit dem Handy schlägt Harry dem Wehrlosen auf eine Stelle am Hinterkopf, immer und immer wieder. »Beim Schlagen wunderte er sich, was das Gerät alles aushielt.« Keine zwei Stunden später steht er auf der Bühne und fragt sich, wann man ihn wohl verhaften wird. Dochalles endet versöhnlich.
In allen Geschichten spielt Sexualität, mit den Möglichkeiten, die sie bietet, eine ansehnliche Rolle. Müry kann auf diesem Gebiet einige Kabinettstückchen vorweisen. Vieles spielt im Künstler-Milieu. Müry kennt sich da gut aus. Und er geht nicht zimperlich mit seinen (Ich-)Erzählern um. Einer, hocherstaunt, dass man ihn als Liebesobjekt betrachtet, spottet über seine Erscheinung. Leider ist die junge Frau, die da mit ihm flirtet, kurze Zeit später tot. Vom Balkon gefallen? Das Ende bleibt offen.
Die Geschichten spielen dort, wo Freud die Wiederkehr des Verdrängten er- bzw. gefunden hat. Die Vergangenheit ist eben nicht tot.