Die Wiesbadener Maifestspiele (30.4.-30.5.23) werfen mit viel Wirbel und, wie es Intendant Uwe Eric Laufenberg benennt, »einer Art Moralhysterie« wegen der Auftritte von Anna Netrebko und abgesagter Ensembles vonseiten der Ukraine, ihre Schatten voraus. Die Festspiele sollen, so das Credo, »weltweit politischen Gefangenen gewidmet sein«. Die Janácek-Oper »Aus einem Totenhaus« (nach Dostojewski) oder »Nabucco« als Freiheitsoper von Verdi sollen die Umrahmung sein. Und: der trotzige Laufenberg wäre nicht er selbst, hätte er nicht noch eine Provokation in der Hinterhand und lud die russische Punk-Gruppe Pussy Riot ein, einst selbst politische Gefangene des diktatorischen Regimes. Just während des Schreibens dieser Zeilen haben die Damen ihre Teilnahme am Festival abgesagt. Wir werden in der kommenden Ausgabe unseres Magazins berichten, wie die Planungen weiter verlaufen. An Peinlichkeiten hat es im Vorfeld – leider – nicht gefehlt.
Freuen dürfen wir uns allerdings zunächst über die Uraufführung eines neuen Auftragswerks des Staatstheaters für den deutsch-dänischen, hoch gehandelten Komponisten Søren Nils Eichberg. Der in Wiesbaden 2017 bereits mit »Schönerland« Furore machte und nun mit seiner neuen Oper »Oryx and Crake« für großen Premieren-Jubel sorgte. Trotz des düsteren Themas: liegt hier doch ein »dystopischer« Roman der vielfach preisgekrönten kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood zugrunde, ein Gegenentwurf zu einer Utopie also. In ein sehr schlüssiges Libretto gebracht hat diese Vorlage Hannah Dübgen.
Wenn allerorten von künstlicher Intelligenz die Rede ist, von Genmanipulationen und bedrückenden Zukunftsszenarien, dann trifft das Sujet des Werks mehr als nur den Nerv unserer Zeit. Genmanipulierte, friedliche Wesen, die mit Menschen nicht mehr viel gemein haben, leben in einer Art Ödnis (»und die Erde war wüst und leer …?), die einstmals eine Stadt gewesen ist. Mir kommt unweigerlich der apokalyptische Hollywood-Film »I am Legend« aus dem Jahr 2007 in den Sinn, der ein für immer verwüstetes Manhattan schildert mit einem einzigen Überlebenden eines weltweit aus der Kontrolle geratenen, mutierten Virus. Bei »Oryx and Crake« ist der einzige Überlebende einer durchaus ähnlichen Katastrophe ein gewisser Jimmy, der sich »Snowman« nennt. Dessen Jugendfreund Crake hatte in einem Forschungslabor eine »transgene Menschenrasse« geschaffen. »Um Überbevölkerung und Naturzerstörung zu beenden, versteckte Crake in BlyssPluss ein Virus, das die gesamte Menschheit auslöschte.« (Programmheft). Was blieb, war eine »transgene Menschenrasse«. Diese Lebewesen, farblose Crakes, waren friedliche, vegetarisch lebende, aber gedankenferne Wesen, die den kommenden Katastrophen, Klimawandel, Hunger, sich auflösender Ozonschicht, und aus alldem resultierenden Irrsinn widerstehen können.
Die Szenerie der Aufführung ist während des gesamten Stückes wie der Blick durch eine dreidimensionale Kamera. Schemenhaft weit im Hintergrund der Bühne so etwas wie die Skyline von einstmals New York. Davor, ebenfalls im diffusen Licht, bewegen sich schlangenartig gesichtslose graue Wesen (die Craker). Im Vordergrund ein mächtiger Ast eines abgestorbenen Baums, auf dem sich Snowman nachts einrichtet (Italo Calvino lässt grüßen!), um genmanipulierten »Organschweinen« zu entgehen oder »Hunölfen«, den »Bewachern« von ungezähmter Aggressivität.
Auf Snowmans Suche nach dem Ausgangspunkt der globalen Katastrophe trifft er nicht nur auf die Ruine des Labors, sondern auf drei weitere Überlebende der Seuche … was aus ihnen und Snowman wird, bleibt am Ende offen.
Musikalisch bewegt sich das 90-minütige Opus von Søren Nils Eichberg fast durchweg im geheimnisvollen, nebulösen, stets irgendwie tonalen Pianissimo-Bereich; gelegentlich letzte Naturgeräusche von Vogelgezwitscher assoziierend. Die Klangflächen, oft untermalt von Vokalströmen (großartig der Chor des Staatstheaters!), bei Gesängen bzw. musikalischen Dialogen oft kurze, dramatische Eruptionen im Bläser- und Percussionbereich. Eine, wenn man so will, bühnenreife Filmmusik.
Von der Videokünstlerin Astrid Steiner eingeblendete dreidimensionale Bilder evozieren einen zusätzlichen Sog, dem man sich – trotz oder wegen der apokalyptischen Story – nicht entziehen kann. Daniela Kerck als Regisseurin und Gestalterin der Bühne, die durchweg großartigen Protagonisten, zwei Limburger Domsingknaben als der junge Jimmy bzw. Crake und das Staatsorchester unter Albert Horne schafften das Unbeschreibliche eines dystopischen Zukunftsszenarios sicht- und nachhaltig hörbar zu machen.
»Wir haben noch nicht den letzten Schritt gemacht. Wir leben in einer Turbulenzzone, und es liegt jetzt an uns, das Ruder rumzureißen.«
(Daniele Kerck)