Der Dulder
Jeder Mensch schätzt es, wenn er gebraucht wird. Das stärkt sein Selbstgefühl. Thierry, der 51-jährige arbeitslose Familienvater in dem Sozialdrama »Der Wert des Menschen«, wird von seinem behinderten Sohn und von seiner Frau gebraucht und geliebt. Doch auf dem Arbeitsmarkt gibt man ihm zu verstehen, dass man auch ohne ihn gut zurechtkommt.
Auf dem Arbeitsamt diskutiert er mit dem zuständigen Sachbearbeiter über seine sinnlose Umschulung zum Kranführer. Obwohl er noch nie auf einer Baustelle gearbeitet hatte, wurde er für diesen Kurs angemeldet. Und dort war er nicht der einzige Teilnehmer ohne Baustellen-Erfahrung. Das Arbeitsamt könne nur versuchen, ihn zu vermitteln, ihm aber nicht direkt eine Arbeit geben, sagt der Sachbearbeiter. Doch jetzt ist Zeit verloren gegangen, und die Kürzung des Arbeitslosengeldes droht.
Also versucht es Thierry mit einer direkten Bewerbung, am heimischen Computer per Skype. Offen gesagt, seien seine Chancen nicht gut, heißt es aus der Personalabteilung. Auf seine Frage, ob er anrufen dürfe oder ob er angerufen werde, ist die Antwort: »Weder noch – wir schicken eine E-Mail.«
Danach wird sein Verhalten im Vorstellungsgespräch von anderen Arbeitssuchenden analysiert. Selbst erfolglos, können sie im Bewerbungstraining gar nicht genug Kritikpunkte an Thierrys Verhalten finden. Er kann sich eben nicht gut verkaufen. Und das ist nötig heutzutage, wenn man in der Arbeitsmarkthierarchie nicht ganz unten landen will.
Tristesse, wohin man schaut in diesem im Dokumentar-Stil der Dardenne Brüder gedrehten Spielfilm. Als Thierry schließlich in einem Supermarkt als Detektiv arbeitet, geht es ihm nicht viel besser. Hier sind es die Ladendiebe, die gedemütigt werden. Wenn sie die gestohlenen Sachen bezahlen, habe sich die Sache erledigt, wird ihnen gesagt. Da lässt die Geschäftsführerin Milde walten, und Thierry, der Dulder, steht stumm daneben.
Wenn allerdings Kassiererinnen bei Betrügereien erwischt werden, droht ihnen die Kündigung. Als nach dem Selbstmord einer geschassten Kassiererin die nächste beim Schummeln mit Bonuspunkten ertappt wird, ist für Thierry das Maß voll.
Regisseur Stéphane Brizé klagt an. Unterstützt von seinem eindrucksvollen Hauptdarsteller Vincent Lindon, der im letzten Jahr in Cannes als bester Darsteller ausgezeichnet wurde, statuiert er ein Exempel aus dem französischen Mittelstand, wo berechtigte Angst vor dem sozialen Abstieg die Menschen beherrscht. Das Gesetz des Marktes – so die Übersetzung des französischen Originaltitels »La loi du marché« – bedroht Thierry existenziell, und er steht stellvertretend für all die anderen in der gleichen Situation. Seinen Wert spürt er nur in der Familie, wenn er seinem Sohn hilft, wenn er mit seiner Frau einen Tanzkurs besucht und anschließend zu Hause die gelernten Schritte mit ihr und dem Jungen wiederholt. Dann scheint sich so etwas wie Glück in seinem Gesicht zu spiegeln.