Man muss nicht unbedingt die Filme von Alain Resnais kennen, um die schauspielerische Qualität von Sabine Azéma und André Dussollier hoch einzuschätzen. Doch für Ivan Calbérac, der eine ziemlich verrückte Geschichte glaubhaft erzählen wollte, war es äußerst hilfreich, sich an »Das Leben ist ein Roman« und »Das Leben ist ein Chanson« zu erinnern.
In der ersten Zusammenarbeit mit Autor und Regisseur Calbérac glänzt Sabine Azéma als verständnisvolle Ehefrau und André Dussollier in der Rolle ihres Gatten François Marsault, eines pensionierten Offiziers, der mit seinen Ansichten gewissermaßen in den 50er Jahren stehengeblieben ist. Er verehrt noch immer General De Gaulle und betrachtet sein Leben und seine große Familie häufig unter militärischen Gesichtspunkten. Er ist ein Ehrenmann, nicht ohne Charme, und steht fest zu seinen Pflichten, zu denen er selbstverständlich die eheliche Treue zählt.
Umso härter trifft es ihn, als er beim Herrichten des Dachbodens 40 Jahre alte Liebesbriefe an seine Frau Annie findet. Da hilft ihr die Ironie, die bei den patriarchalischen Anfällen des Gatten in ihren Augen funkelt, nicht weiter. Denn das Argument, die Affäre liege ja so lange zurück, dass sie bereits verjährt sei, kann François überhaupt nicht beruhigen. Er verlässt das Ehebett, um im Klappbett des Gästezimmers zu übernachtet, löst dabei den Klappmechanismus aus und verschwindet prompt in der Schrankwand – zum allgemeinen Amüsement im Kino.
Jedenfalls stammen die Briefe aus einer Zeit, als Annie bereits mit ihm verheiratet war. Und das zieht eine Kriegserklärung des Offiziers im Ruhestand nach sich. Also packt François das Auto und fährt mit Annie nach Nizza, von wo die Liebesbriefe gekommen sind und wo der ehemalige Liebhaber Boris Pelleray (Thierry Lhermitte) auch heute noch lebt. Annie, die gerade ein wenig provokativ Flauberts »Madame Bovary« liest, hat sich nicht abweisen lassen, weil sie glaubt, den älter gewordenen Boris identifizieren und das Schlimmste verhindern zu können.
Vor Nizzas Postkartenkulisse kommt es nach Boris’ eingehender Entschuldigung zu ein paar Attacken von François, die dieser aber vorzeitig abbricht. Denn sein Widersacher ist ein großzügiger Bonvivant, der ein bindungsloses Leben bevorzugt. Trotzdem macht auch er Annie Angebote. Weil sie von beiden Männern bald die Nase voll hat, zieht sie sich allein in ein Hotel zurück.
Ein Zeitungsartikel über die Scheidung eines 92-jährigen Italieners, der 70 Jahre alte Liebesbriefe an seine Frau entdeckt hatte, inspirierte Calbérac zu »Liebesbriefe aus Nizza«. Er hat die Anzahl der in Rede stehenden Jahre reduziert und das fiktiv erweiterte Geschehen auf ein Jahr von Annies einem Geburtstag zum nächsten verdichtet. Darin wird so manches Familiengeheimnis aufgedeckt. Wenn etwa François unter der Bettdecke seiner Tochter deren Krampf im Fuß lindern möchte und dabei plötzlich mit vier Füßen hantiert, entdeckt er eine bisher verheimlichte lesbische Beziehung.
Die Szene gehört zum Besten, was der Film zu bieten hat, und könnte aus einem Marx-Brothers-Film stammen, wenn sie schwarzweiß wäre. Während es aber in den Goldenen Jahren der amerikanischen Filmkomödie um perfekte Unterhaltung ging, wird heutzutage gerne in einer Spielfilmlänge ein starrer Charakter gelockert und nahbarer gemacht. Calbérac hat darin eine gewisse Meisterschaft erlangt. In guter Erinnerung ist noch seine hinreißende Komödie »Frühstück bei Henri« mit Claude Brasseur. Weil er sich gern erfolgversprechende Kniffe vom Boulevardtheater abguckt und auch sonst um witzige Einfälle nie verlegen scheint, gelingt ihm auch diesmal ein vergnügliches Kinostück, das zudem mit einer hochprofessionellen Kameraarbeit von Reynald Bertrand und der wunderbar melodiösen Klaviermusik von Laurent Aknin beeindruckt.
Die Dame heißt Sabine Azéma nicht ANZÉMA.
Danke für den Hinweis!