Die Kopfgeldjägerin Alice Vega in »Tote ohne Namen« von Louisa Luna

Diesem Buch begegnete ich zuerst in Melbourne, am Ende eines Besuchs bei Michael Heyward, dem Verleger von Peter Temple, Garry Disher und Stephen Greenall und einer beeindruckenden Liste australischer Klassiker. Wir hatten davon gesprochen, wie schwierig es für uns Vielleser ist, von einem Buch noch richtig überrascht zu werden, wie eher selten das noch vorkommt. »Blown away« war der Ausdruck. Da trat der Verleger von Text-Books ans Regal, fischte »The Janes« von Louisa Luna heraus, gab mir das Exemplar und meinte: »Try this one.«
Das ist jetzt 16 Monate her. Kaum ein Buch habe ich in dieser Zeit mit mehr Vergnügen gelesen. Immer noch ertappe ich mich dabei, wie ich lächeln muss, wenn ich an bestimmte Details denke. »Tote ohne Namen« von Louisa Luna ist ein perfekter Thriller, straight und selbstbewusst, geölt und elegant, effektsicher und klug. Und rasend spannend. Schnell erzählt. Ein weiblicher Blick auf eine ultraharte Welt.

Es geht um zwei Tote ohne Namen, mit denen es die Privatdetektivin und gelegentliche Kopfgeldjägerin Alice Vega zu tun bekommt: zwei mexikanische Mädchen, zwischen zwölf und vierzehn Jahren alt, zur Prostitution gezwungen, nach dem Tod einfach irgendwo abgeladen. Ihr Alter, die Todesart und die Seriennummer der eingesetzten Spirale verbindet sie. Die verrät noch mehr: Es muss außer ihnen noch vier weitere Mädchen geben.

Dem Mädchenhandel-Drogenkartell-Killer-Behörden-Korruptions-Kuddelmuddel-alles-schon-gehabt-Plot gewinnt Louisa Luna neue, tiefe, dunkle Seiten ab und einen frischen Blick. Am Ende gelingt ihr ein moralischer Salto, der nicht unberührt lässt – so nah sind einem die Personen gekommen. Vor allem die Heldin: Alice Vega, 35, Privatermittlerin. Ich bin versucht zusagen, die heißeste Frau seit Modesty Blaise und Jenny Aaron.

Die Erzählperspektive wechselt von auktorial manchmal zu der von Cap: Max Caplan, frischer Ex-Polizist. Ermittlungs-Partner von Alice Vega. Es ist ein Männerblick, geschrieben von einer Frau: »Vor ein paar Monaten hatte sie sich die Haare abgeschnitten und schwarz gefärbt. Jetzt waren sie kurz, hingen ihr gerade noch über die Ohren und standen nach allen Seiten ab. Ihre Kleidung hatte sie auch radikal verändert. Früher war sie eher sportlich rumgelaufen, Khakihosen und Kapuzenpulli, jetzt trug sie Jeans mit Löchern auf den Knien und enge Trägerhemdchen oder T-Shirts mit aufgerissen Säumen. Die Augen waren geschminkt wie die von Amy Winehouse. Cap störte es nicht, dass sie sich erwachsener anzog (wie er es nannte), aber was dieser neue Look über ihr Seelenleben aussagte, gefiel ihm gar nicht: zerrissen, haltlos.«

Auf Seite 83 späht Cap abends eher zufällig in das Motelzimmer von Alice Vega, kann den Blick nicht wenden. »Sein Herz pochte wie wild, als er langsam erkannte, was sie da machte. Dort, mitten im Zimmer, vollführte Vega einen Handstand. Es brannte kein Licht, aber Cap erkannte die Konturen ihres Körpers und sah, dass sie bekleidet war. Ihr Blick war von ihm abgewandt, zum Bett gerichtet, ihr Haar hing wie ein Vorhang über dem Boden. Sie bewegte sich nicht. Mehrere Minuten verharrte er vor ihrem Fenster und sah ihr zu. Wie konnte sie das so lange halten?«
Später fragt sie ihn, ob er sie beim Handstand gesehen hat. Cap lügt nicht. Sagt ja. Es war schon das zweite Mal. »Ist so eine Angewohnheit von mir«, sagt sie. »Hilft mir beim Nachdenken.« Okay. Stundenlang Handstand. Warum nicht? Sollte man mal probieren.

Auf Seite 97 marschiert Vega vor Cap auf ein Haus zu. »Ohne ihre Jacke konnte er ihre Figur besser sehen, als es normalerweise der Fall war, besonders ihren Hintern. Hör auf, ihr auf den Hintern zu glotzen!, mahnte er sich, aber das brachte nicht viel. Er war einfach zu perfekt.« Die Autorin und ihre Figur lassen solche Blicke männliche Blicke sein, zetteln darüber keinen Aufstand an. Im Gegenteil: Wer hier die Hosen auf dem zudem schöneren Hinten anhat, das ist immer klar: »Mit Vega zusammen zu sein, wenn ihr Hirn den Turbo einschaltete, war genug um ihn wach zu halten. Besser als Red Bull.«
Oder, an anderer Stelle: »Probiere es zuerst mit Logik. Das war Vegas Motto.«

Vega – die man schnell nur noch beim Familiennamen nennt, wie das auch bei Lee Childs Reacher der Fall ist – verhört einen jungen Mann. Sie textet an Cap, der draußen im Auto sitzt. »Jetzt winken«, sagt die SMS.
»Siehst du den Typen da drüben? Er kann alles mithören, was wir sagen.«
Vega fuchtelt mit ihrem Handy.
»Da ist ein Mikro drin. Wenn mir was passiert, kommt er rüber und zeigt dir, was im Kofferraum ist.«
»Was ist denn im Kofferraum«, fragt Corey.
»Neugierig? Dann greif mich an.«
… »Egal, was ihr mit mir anstellt, egal, was du da im Kofferraum hast, das alles ist ein Furz gegen das, was die Typen und ihre Leute mit mir machen, wenn ich sie verpfeife.«
»Echt?« Vega setzt sich auf den Tischrand. »Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen.«

Der ominöse Kofferraum wird kurz zuvor das erste Mal erwähnt. Es wird ein Running Gag in diesem Buch.
»Eine halbe Stunde. Wenn ich dann nicht wieder draußen bin und du keine Nachricht von mir hast, nimmst du das, was im Kofferraum ist und holst mich raus.«
»Was ist im Kofferraum?«, ruft er ihr nach.
»Musst du nicht wissen, wenn du’s nicht brauchst.«
So lautet auch Hitchcocks klassische Definition des McGuffin.

Im neugierigen Internetzeitalter käme er damit nicht durch. Irgendwann erlöst uns Louisa Luna. Es ist ein übergroßer Bolzenschneider. Irgendwann geht er verloren. Als Vega ihn wiederfindet, »lächelt sie erfreut, als sei es ein lange verschollener Freund«.
Sie nimmt ihn mit zu einem Verhör im Krankenhaus. Vega tippt damit nur auf den Gipsverband – und der Typ schreit, bettelt und winselt, dass man BITTE diese Frau wegbringen müsse.

Einer meiner Lacher im Buch.

Lächeln musste ich oft bei Nell, Caps halbwüchsiger Tochter, einer Art frühreifer Madame Maigret. Ein Teenager, den schon lange nichts mehr erschüttern kann. Wenn Cap seine Arbeit mit nach Haus bringt, ist sie es, die ernsthafte Gespräche mit ihm führt und Schlussfolgerungen zieht. »Im Prinzip machen sie die Mädchen zu Sexspielzeugen. Setzen ihnen Spiralen ein und zappen ihnen den Verstand weg.«
Vega kauft einen Stapel Pornozeitschriften. Es gibt einen Witz über eine Pferdezeitschrift mit nackten Frauen. Oder ist es eine Frauenzeitschrift mit nackten Pferden? Vega ist auf einer Metaebene: »Ich denke über Motivationen nach. Und darüber, dass es für Männer nur drei Dinge gibt: Sex, Drogen und Geld. Das magische Dreieck. Jeder Mann, der ein Verbrechen begeht, tut dies, weil er an einer dieser drei Sachen interessiert ist – oder gleich an allen dreien.«

Alf Mayer (Foto: © Bertrand Roberts)
Louisa Luna: Tote ohne Namen (The Janes, 2020). Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 444 Seiten, Klappenbroschur, 15,95 Euro.
PS: Man sollte mal eine Liste mit den besten Dingen in Kofferräumen machen.
Platz 1: George Clooney und Jennifer Lopez in »Out of Sight«
Platz 2: Der Bolzenschneider von Alice Vega
Platz 3: Die Atombombe in Robert Aldrichs »Kiss Me Deadly/Rattennest«.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert