»Die Mitte der Welt« von Jakob M. Erwa

Ob hetero oder homo

Mit dem Erfolgsroman von Andreas Steinhöfel aus dem Jahre 1998 wird nach »Tschick« ein zweiter Bestseller verfilmt, in dem Teenager ihren Weg finden müssen: diesmal nicht als Roadmovie durch Ostdeutschland, sondern als Expedition durch den Dschungel der Gefühle und durch die Kümmernisse die Vergangenheit.

Ein Problem hat der siebzehnjährige Phil zumindest nicht: seiner alleinerziehenden Mutter Glass, die nicht Mutter genannt werden will, ist es egal, dass er schwul ist. Dafür hat Phil anderen Kummer, den er bisher jedoch verdrängen konnte. Nach seiner Rückkehr aus einem Sommercamp aber hat nicht nur ein Sturm den Wald, seinen bevorzugten Rückzugsort, zerstört. Auch zwischen Glass und seiner Zwillingsschwester Dianne herrscht urplötzlich Eiszeit. Dianne, seit jeher Phils Vertraute, geht auch ihm aus dem Weg. Phil hat kaum Zeit, darüber nachzugrübeln. Denn in seiner Klasse taucht ein schöner neuer Mitschüler auf, in den er sich sofort verknallt. Tatsächlich lädt ihn der coole Nicholas zu einem Date ein. So beginnt eine Liebesbeziehung, die den empfindsamen Teenager in höchste Seligkeit katapultiert – und in tiefste Verzweiflung stürzt.
Das L-Wort, so warnt ihn Glass, dürfe man nicht in den Mund nehmen, um nicht enttäuscht zu werden. Allerdings ist Glass, deren lange Liste vergraulter Lover kaum auf ein DIN A4-Blatt passt, schwerlich die richtige, um ihren Sohn in Liebesdingen zu beraten. Auch das Wort Vater ist in diesem Haushalt ein Tabu. Doch dann bringt ein seltsames Vorkommnis die offenen Fragen der Kinder, ihre tief sitzende Nöte und den Groll über ihre unmütterliche Mutter neu aufs Tapet.
Das Verblüffendste an Jakob M. Erwas Verfilmung von Steinhöfels Jugendromanbestseller ist zunächst, wie belanglos die sexuelle Orientierung des Helden ist (und wie unwichtig die Frage ist, ob man hetero oder homo bevorzugt, wird Phil bald schmerzhaft klargemacht). Tatsächlich geht es einfach um die Freuden und Qualen der ersten Liebe, die sich mit dem Leiden an der Familie vermischen und Phil auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle schicken. Denn Phil laboriert ja nicht nur an den üblichen Baustellen der Pubertät. Auch seine aufgekratzt hedonistische und unkonventionelle Mutter, die mit ihren beiden Kindern in einer Art Villa Kunterbunt lebt und in dieser provinziellen Gegend stolz ihren Außenseiterstatus betont, bereitet ihm zunehmend Kopfzerbrechen.  
Als roter Faden dieses Coming-of-Age-Dramas entpuppt sich die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater. Doch ob diese existentielle Leerstelle für Phil einen Mangel darstellt oder vielmehr einen kreativen Freiraum, lässt die Verfilmung offen. Anders gesagt: der zarte Knabe muss seine Passivität überwinden und sein Leben selbst gestalten. Und dieses langsame Zu-sich-selbst-Kommen wird von Newcomer Louis Hoffmann ziemlich anrührend verkörpert. Visualisiert wird Phils inneres Chaos überdies durch eine collagen- und scrapbookartige Ästhetik, in der sich Rückblenden-Schnappschüsse auf Phils Kindheit mit postkartenhaften Impressionen der Gegenwart, mit Phantasien und Smartphone-Filmchen abwechseln. Die auf ihn einstürmenden Emotionen formen sich zu einem filmischen »Moodboard«, dessen bunte Schnipsel nie Langeweile oder Theatralik aufkommen lassen – und diesem Jugenddrama bei allem Herzschmerz Drive und Leichtigkeit verleihen.

Birgit Roschy
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DIE MITTE DER WELT
von Jakob M. Erwa, D/A 2016, 115 Min.
mit Louis Hofmann, Sabine Timoteo, Svenja Jung, Jannik Schümann, Nina Proll, Inka Friedrich
nach dem Roman von Andreas Steinhöfel
Drama
Start: 10.11.2016

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