Die Radikalität des Nein – »Das Tove Projekt« am Schauspiel Frankfurt

Nein. Sie ist keine Annie Ernaux. Nein, sie ist keine Mutter der autofiktionalen Literatur. Diese ganze Etikettierungsmaschinerie zerstäubt schon beim ersten Lesen der Romane der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen (1917–1976) und vernebelt die Sicht auf deren schriftstellerische Einzigartigkeit.
Aus ihrer neu aufgelegten und weltweit hymnisch gefeierten »Kopenhagen-Trilogie« und ihrem Roman »Gesichter« hat die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak mit ihrem Team nun ihre erste Arbeit für das Schauspiel Frankfurt destilliert. Und sie tut schon beim ersten Bild in ihrer Inszenierung nicht so, als wolle sie diese autobiografisch schattierten Romane von Tove Ditlevsen, die in den 1960er Jahren entstanden, irgendwie nacherzählen. Sie tut vielmehr so, als wolle sie Chiffren finden, um deren Gefühlswelt zu transzendieren, in flüchtige, sich auflösende Szenen zu fassen. Und ich frage mich, ob sie damit nicht viel näher an dem Werk dieser tatsächlich unglaublichen Persönlichkeit dran ist als so viele Rezensionen ihrer Romane.
Tove Ditlevsen entstammte dem Arbeitermilieu, und dass ihre Eltern sie schon früh zum Arbeiten anhielten, hat etwas mit ihrer wirtschaftlichen Not zu tun und nicht mit einem Misstrauen ihres Wunsches gegenüber, Dichterin zu werden. Im Gegenteil, Bruder und auch Vater sind stolz auf sie. Dazu liefert uns Ewelina Marciniak als erstes Bild schon ein überzeugendes: an den Rand einer vasten Sandlandschaft gedrängt hat sie mit dem Bühnenbildner Grzegorz Layer wunderbar konkret »Die Magd mit dem Milchkrug« von Vermeer nachgestellt: Katharina Linder als dralle Magd agiert mit dem Krug, Zinngerätschaften hängen an Haken, alles vermittelt Enge, aber auch Wärme, Versorgt-Werden, Heimat? Ist Katharina Linder die Vermeer-Mutter mit dem rosigen glänzenden Gesicht, dann ist Uwe Zerwer der polternde, zeitungslesende sozialistische Arbeitervater. Zwei Miniaturen, und schon ist eine Atmosphäre auf der Bühne.
Bilder, Spiegelungen, Schattenspiele, ergänzende Texte werden in dieser Inszenierung auch weiterhin ein Parallelgewebe zum bespielten Vordergrund auf der Bühne bilden. Während der ersten Szenen etwa tanzt, schreitet eine zweite Frau im schwarzen eleganten Kleid im sandigen Hintergrund, sie trägt das Titelbild eines Fashion-Magazins vor ihrem Gesicht wie eine Maske, das Sarah Grunert in der Rolle der Tove Ditlevsen zeigt. Was ist Wirklichkeit, was ist Wahrheit, welches sind die Rollen, die man spielen, welches sind die Ansprüche, denen man genügen muss? Was ist Identität, was ist vorgetäuscht, was ist angemaßt, welche gesellschaftlichen Muster beengen und beugen das Ich als Schriftstellerin, das Ich als Frau, als Mutter, Geliebte, Hausfrau? Exakt diese Themen beherrschten das Werk der Autorin. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes in den 1950er, 1960er Jahren war sie genauso eine öffentliche Person, wie es das Titelbild dieser Zeitschrift zeigt, eine Frau, über die man berichtete. Die immense weibliche Leserschaft fand sich in ihr gespiegelt. Doch wie findet man einen Weg hinaus aus diesem Strudel? Was ist, wenn man einfach nein sagt?
Das Ringen um Selbstfindung ist bei einer Autorin eines, an dem die Außenwelt teilnimmt, und für dieses Ringen findet Sarah Grunert einen der fragilsten und überzeugendsten Momente des ganzen Abends. Wie sie da in hautfarbener Unterwäsche am Bühnenrand steht und über das Gesehen-Werden, das Spiel mit Rollen als Schauspielerin spricht, überführt sie die Lebensfragen Tove Ditlevsens in eine unglaublich anrührende Bühnenpräsenz. Die ausgedehnte Sandlandschaft: das haltlose Innere. Die wunderbar inszenierte Tanzszene, in der alle eigentlich nur Posen aufführen und wie Marionetten wirken: der brennende Wunsch nach Leben und das Eingekerkertsein in der Liebe, in der Ehe. Schön, aber grausam, das Begehren, aber auch hinderlich, wenn es mit Unterwerfung einhergeht.
Viele Lebensstationen der Autorin werden so in sprechende Bilder überführt, bis ein Licht- und Donnergewitter die »Kopenhagen Trilogie« von dem Roman »Gesichter« trennt. Ein Badezimmer wird nun auf die Bühne gerollt, nimmt rechts hinten einen kleinen Platz ein, kontrapunktisch zur – oder ist es vielleicht auch – Heimat? Dieses Bild ist dem Roman entnommen. Die von Visionen und Halluzinationen zerrüttete Hauptfigur Lise Mundus (der Name von Tove Ditlevsens Mutter) zieht sich in eine imaginierte Badewanne in einer Nervenheilanstalt zurück. Sie hat einen Selbstmord vorgetäuscht, um in die Klinik zu kommen, um der Welt, dem untreuen Ehemann, den Verschwörungen, die sich überall wittert, zu entfliehen. Tatsächlich hat die reale Autorin unter Psychosen und Depressionen gelitten, die »Kopenhagen Trilogie« in einer solchen Klinik geschrieben. Mit 59 Jahren wird sich Tove Ditlevsen das Leben nehmen.
Es sind Versuche eines Näherkommens, Versuche eines Verständnisses, das Umkreisen eines Geheimnisses, das Tove Ditlevsen ja doch auch ist und in dieser Inszenierung auch bleibt. Und ehrlich gesagt auch bleiben soll. Hier wird keineswegs mit Bühnenmitteln eine Tove Ditlevsen rekonstruiert. Vermutlich besteht genau darin deren Zauber.

Susanne Asal / Fotos: © Thomas Aurin
Termine: 3., 5., 6. Juli, 19.30 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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