Zwei Jahre Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung, Beleidigung des Berliner Polizeipräsidenten und Kritik an den Landesgesetzen kassierte Ernst Andreas Dominicus Dronke (1822–1891) aus Koblenz für die Publikation von »Berlin«, seiner großen Sozialreportage, die 1846 bei der Literarischen Anstalt J. Rütten in Frankfurt am Main in zwei Bänden erschien. Gewidmet war das – später fast sagenumwobene – Werk dem Revolutionär Georg Herwegh, jetzt liegt es in einer Prachtausgabe als Folioband der »Anderen Bibliothek« vor, sein Papier (130g Schleipen Fly 02) so handschmeichelnd, dass man süchtig werden könnte.
Eine Ehrenrettung also rundum für ein großes Werk der Sozialreportage. Es ist soziologische Analyse, kritisches Pamphlet und historische Abhandlung, vor allem ein genauer Blick, oder um es mit Hans Christoph Buch im Vorwort zu sagen: Eine »Bestandsaufnahme des Großstadtlebens zur Beginn der Industrialisierung, die Arme ärmer und Reiche reicher machte, zugleich aber traditionelle Unterschiede von Beruf und Stand in nie dagewesener Weise nivellierte«. Buch liefert dazu ein Marx-Engels-Zitat aus dem »Kommunistischen Manifest« von 1848: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«.
Berlin hatte damals 400 000 Einwohner, unter 17 Personen, rechnete Ernst Dronke aus, ist eine Prostituierte. Die Zahl der Verbrecher bezifferte er auf mehr als 12 000. Sein Buch wolle, schreibt er in seiner Widmung an den Revolutionär Georg Herwegh, »zur Erkenntnis der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Verhältnisse beitragen«. Dronke hatte in Berlin eigentlich promovieren wollen, seine Notizen entstanden während eines anderthalbjährigen Aufenthalts. Dann wurde er der Stadt verwiesen und zum Staatenlosen, weil ihm seine Heimat Kurhessen und das große Preußen die Bürgerrechte entzogen, er entfloh aus der Festungshaft Wesel am Niederrhein, ging ins Exil, wurde zu einer der zentralen Figuren der »Neuen Rheinischen Zeitung« um Karl Marx und Friedrich Engels. Er starb in der Emigration. Das Verdienst dieses Buches äußert sich noch einmal sinnfällig im Nachwort »Bilderloses Elend« von Ron Mieczkowski, der über die Schwierigkeiten schreibt, es zu illustrieren – zwar enthält die Folio-Ausgabe 85 zeitgenössische Bildwerke, aber, so Mieczkowski, Dronkes Analyse des Armenmilieus, seine Beschreibungen des Geschirrs aus den Armenküchen haben keine Entsprechung in Malerei und Druckgrafik seiner Zeit. Seine Erzählungen müssen für sich selber stehen.
Ernst Dronke: Berlin. Illustriert mit 85 zeitgenössischen Bildwerken. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. Folioband, gebunden, bibliophile Ausstattung, Fadenheftung, Lesebändchen. 416 Seiten, 58 Euro.
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Sprung über den Teich: Er ist im wahrsten Sinne schon auf beiden Seiten des Gewehrlaufs gestanden. Er ist ein Schwarzer. In den USA. Manchmal hatte er schon den Finger am Abzug und war kurz davor, einen tödlichen Schuss abzugeben. Andere Male richtete ein weißer Officer die Waffe auf sein Gesicht, und er war dem Tode nahe. 28 Jahre war Matthew Horace ein Cop, in seinem mit Hilfe des Reporters Ron Harris entstandenen Buch »Schwarz Blau Blut« beleuchtet er das Thema Rassismus und Polizeigewalt in den USA von beiden Seiten. Und das hautnah, von der Front. Nicht aus akademischer Distanz.
Er kennt sie alle: die Helden, die Mörder, die Rassisten, die Dealer, die korrupten Kollegen und die Opfer. Und er kennt die Zusammenhänge. Auch als Cop ist er der schwarze Junge, dem von seinen besorgten Eltern eingeschärft wurde: Egal, wie absurd die Gründe sind, aus denen die Polizei dich anhält, und egal wie schlimm sie dich beleidigen und erniedrigen, füge dich, damit du lebend nach Hause kommst. Als Cop ist er Teil einer noblen und Teil einer menschenverachtend rassistischen Institution. Das alles nennt er beim Namen, geht vor Ort – in Chicago, in New Orleans, in anderen Städten, er nennt beim Namen, was in Ferguson und anderswo passiert ist, er schreibt über die Aufrüstung und die ideologische Ausrichtung der amerikanischen Polizei.
Und er verteidigt »Black Lives Matter«: »Diese Bewegung ist so wenig polizeifeindlich wie die Frauenbewegung nicht männerfeindlich ist und die Bürgerrechtsbewegung nicht weißenfeindlich war«. In seinem Vorwort beschreibt er, an welch einem Abgrund sich in Sachen Polizeigewalt weiße und schwarze Amerikaner gegenüberstehen.
Dann steigt er hinunter. – Ein sehr starkes Buch. Wichtig.
Matthew Horace, mit Ron Harris: Schwarz Blau Blut. Ein Cop über Rassismus und Polizeigewalt in den USA (The Black and the Blue. A Cop Reveals the Crimes, Racism, and Injustice in America’s Law Enforcement, 2018). Übersetzt von Volker Oldenburg. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2019. 270 Seiten, 15,95 Euro.
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Tacheles: Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institut Jerusalem den »Jüdischen Almanach« heraus, knüpft damit an eine von den Nationalsozialisten gewaltsam abgeschnittene Tradition an. Der erste solche Almanach erschien im Jahr 1902. Vielleicht war es also nur eine Frage der Zeit, nichtsdestotrotz aber nun doch eine Freude, dass dieses Jahr »Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt« das Thema sind. Der relativ schmale Band ist äußerst gehaltvoll – vergnüglich und spannend dazu. Herausgeberin Gisela Dachs hat einen illustren Reigen von Beiträgen organisiert.
Der große Michael Wuliger erklärt uns in »Schande fur di Gojim« anhand der Fälle Bernie Madoff und Harvey Weinstein, warum man sich in der Diaspora mit schwarzen Schafen in den eigenen Reihen so schwer tut. Schimon Staszewski gibt Einblick in das mehr als 3.000 Jahre alte jüdische Rechtssystem. Autor Alfred Bodenheimer schreibt über den (und seinen) Rabbi als Ermittlerfigur, Dror Mishani fragt sich, warum es so schwierig ist, einen Kriminalroman auf Hebräisch zu schreiben. Robert Rockaway entführt uns zur »Kosher Nostra« in den USA, Daniela Segenreich zur europäischen Variante auf die Schwarzmärkte der Nachkriegszeit. Tammy Razi hat zum Umgang der Briten mit jugendlichen Straftätern in Palästina geforscht, für Daniel Wildmann lohnt sich ein näheres Hinsehen auf die Tatort-Folge »Der Schächter« von 2003. Der Band geht auch nicht Takis Würgers Kolportageroman »Stella« aus dem Weg, versucht eine Ehrenrettung der israelischen »Eis am Stiel«-Filme als kulturelles Dokument und blickt am Beispiel der sogenannten »Stalag-Fiktion« auf Sex, Sadismus und Tod in der israelischen Schundliteratur. Der Band beschäftigt sich aber nicht nur mit Vergehen und Verbrechen, er sucht auch Antworten auf die Frage, ob das Judentum die Sexualität befreit oder unterdrückt. Alles sehr, sehr interessant. Ein Bravo nach Tel Aviv.
Gisela Dachs (Hg.): Jüdischer Almanach – Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Taschenbuch, 200 Seiten, 20 Euro.
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Den Himmel lesen: Poesie ist die vielleicht heilsamste Kraft. Die Graphic Novel »Zuflucht nehmen« feiert sie auf eindringlich schöne Art, das vor auch inhaltlich heftig nachtschwarzem Hintergrund. Der Kosmopolit und Weltenbummler Mathias Énard hat sich für seine erste Graphic Novel mit der in Beirut geborenen, seit 2005 in Paris lebenden Zeichnerin Zeina Abirached (»Piano Oriental«, »Das Spiel der Schwalben«) zusammen getan. Von Énard kennt man vielleicht »Kompass« (2016), »Straße der Diebe« (2013) oder »Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten« (2011). In ihrer 345 Seiten starken, ganz in Schwarz-Weiß erzählten Gemeinschaftsarbeit verschränken sie eine unmögliche Hetero-Liebesgeschichte aus dem heutigen Berlin mit einer ebenso unmöglichen lesbischen Liebe in Afghanistan, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Zu Füßen der Buddha-Statuen von Bamiyan verliebt sich die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach 1939 in einer sternenklaren Nacht in die Archäologin Ella Maillart. Es ist die Nacht, in der Deutschland Polen überfällt und die Welt für Jahre ins Dunkle stürzt.
Zehn Seiten Raum lässt sich das Buch für ein neun Worte umfassendes Liebesgedicht des syrischen Dichters Nizar Quabbani. Der im Syrienkrieg nach Berlin geflohenen Wissenschaftlerin Neyla wird die Muttersprache zu einem fernen Stern, das verlorene Land schlägt in ihr. Wie von selbst richtet sich der Blick in dieser Erzählung in den nächtlichen Himmel. Selbst ein kulturbarbarisches Ereignis wird so zum Sternenstaub. – Ein wunderschönes Buch.
Zeina Abirached & Mathias Énard: Zuflucht nehmen. Aus dem Französischen von Annika Wiesniewski. avant-verlag, Berlin 2019. Klappenbroschur, 345 Seiten, durchgängig schwarz-weiß illustriert, 30 Euro.