Existenzkämpfe
Eine serbische Kaspar-Hauser-Version, ein Boxerfilm, der weniger vom Box- als vom Existenzkampf handelt, ein Thriller, der ins Leere läuft – das mittel- und osteuropäische Kino ist vielfältig und schert sich wenig um Zuschauererwartungen. Die Kompromisslosigkeit der Filmemacher von dort war in diesem Jahr schon zum 15. Mal zu bewundern.
Eltern unbekannt, Geburtsdatum unbekannt. Der Junge ist im Wald von Männern aufgegriffen worden, die gerade einen Wolf erlegt haben. Er läuft auf allen Vieren, kann nicht sprechen und benimmt sich wie ein Tier. Von seiner Zähmung und der Erziehung zum Mitglied der Gesellschaft erzählt »Niemandskind« von Vuk Rsumovic. Anders als in Truffauts Film »Der Wolfsjunge«, der zur Zeit der französischen Revolution spielt und ebenso wie Rsumovics Film auf einer wahren Begebenheit beruht, steht hier weniger der Glaube an den menschlichen Kern und dessen Entwicklungsfähigkeit im Mittelpunkt als die Zustände im Jugoslawienkrieg, die den Jungen schließlich am Sinn seiner »Vermenschlichung« zweifeln lassen. Der Film, der den Hauptpreis des Wettbewerbs erhielt, lebt von seinen Darstellern, ganz besonders von Denis Muric, der den Wolfsjungen spielt.
»Niemandskind« war im letzten Jahr auf den Filmfestspielen von Venedig gezeigt worden wie auch der russische Beitrag »Die weißen Nächte des Postboten« von Andrej Konchalowskij, der dort mit dem Silbernen Regie-Löwen ausgezeichnet wurde. Das Programmheft von goEast bezeichnet ihn als »dokumentarischen Spielfilm«, der ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt wurde. Konchalowskij ist nach seinem Hollywood-Ausflug in den 80ern (»Runaway Train«, »Tango & Cash«) zum Autorenfilm zurückgekehrt. In wunderschönen Bildern beschreibt er das Leben in einem Dorf an einem See im Norden Russlands. Der Postbote aus dem Titel fährt mit seinem Motorboot auf die andere Seite des Sees, um in der Stadt die Post abzuholen. Im Stillen verehrt er eine alleinerziehende Mutter, die ihn auf Distanz hält. Als ihm eines Tages der Außenbordmotor seines Bootes gestohlen wird, scheint seine Existenz gefährdet. Das ist zwar gut beobachtet, doch manchmal wünscht man sich, Konchalowskij hätte nicht alle Regeln der Hollywood-Dramaturgie in den Wind geschlagen.
Auch für den Boxer Peter, genannt Koza (Ziege), geht es ums Überleben, und nicht nur um sein eigenes. Er tingelt mit seinem Manager und Freund von Preiskampf zu Preiskampf durch die Provinz, um Geld für seine schwangere Freundin zu verdienen. Die Entscheidung zwischen Familiengründung und Abtreibung rückt näher, und Peter, der einstige Olympiateilnehmer, landet mehrfach auf den Brettern oder sogar als Notfall im Krankenhaus, anstatt als stolzer Vater und Besucher in der Entbindungsstation. »Koza«, diese Mischung aus Roadmovie und Boxerfilm, verbreitete jene gepflegte Langeweile, die bei Filmkritikern oftmals besonders gut ankommt. Regisseur Ivan Ostrochovsky, der den slowakischen Ex-Boxer Peter Balaz für die Titelrolle verpflichtet hatte, bekam denn auch den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik.
Der polnische Film »Bürger« von Jerzy Stuhr (Drehbuch, Regie und Hauptrolle) erzählte die Geschichte eines Mannes, der die verschiedenen Etappen der polnischen Geschichte mit den dazugehörigen Wandlungen in seiner politischen Ausrichtung durchlebt hat. Eine Komödie sollte es sein, vielleicht war es auch eine, zumindest für alle, die mit den historischen Ereignissen besser vertraut sind. »Kebab & Horoskop«, ebenfalls aus Polen, wurde mit dem Satz »Warschauer Tristesse trifft Aki Kaurismäki« angekündigt. Doch Regisseur Grzegorz Jaroszuk schien vielmehr Roy Anderson und dessen skurrile Arrangements im Sinn gehabt zu haben. Dass in seinen Bildern die Tiefenschärfe fehlt, die Andersons Filmen den besonderen Reiz verleiht, soll Absicht sein, war vom anwesenden Filmemacher zu erfahren.
Bleibt noch ein Film, der durch seine Atmosphäre und eine hervorragende Inszenierung bestach. In »Der Sensenmann« von Zvonimir Juric hilft ein Bauer des Nachts einer Frau, deren Auto ohne Benzin stehen geblieben ist. Mit seinem Traktor, dessen Scheinwerfer wie aus einem Horrorfilm in die Nacht strahlen, bringt er sie zur Tankstelle, wo sich herausstellt, dass der Bauer wegen einer Vergewaltigung eine Gefängnisstrafe verbüßt hat. Plötzlich erscheint seine Hilfsbereitschaft in einem neuen Licht, doch die Frau lässt sich nicht einschüchtern und geht zu dem Traktor zurück, auf dem der Bauer wartet. Gespannt ist man, wie die Geschichte wohl ausgehen mag, und das ist mehr, als man von vielen anderen Filmen sagen kann. Es gibt auch einen überraschenden Todesfall, der nicht aufgeklärt wird. Man ist auf Vermutungen angewiesen, doch das tut dem Ganzen keinen Abbruch. Zvonimir Jurics Thriller ist intelligentes Genre-Kino.
Claus Wecker