Frankfurt liest ein Buch, diesmal Irmgard Keun: Nach Mitternacht

© Bob Denneboom

Man muss diese Wahnsinnsszene am besten mehrfach lesen, diese Szene im Wirtshaus mit dem schreienden blauseidenen Gör und seinem Fliederstrauß. Als »Reihendurchbrecherin« war es auserkoren, ihn Adolf Hitler am Frankfurter Opernplatz zu überreichen. Aber er nimmt das kleine Mädchen überhaupt nicht wahr. Und nun zurück im Wirtshaus: man sieht das Versoffene, das Hysterische, das Erstickte, und wie viel Wahrhaftigkeit in dieser expressionistisch aufgeladenen Szene liegt, wie sie ihre Strahlen aussendet, um die Wirklichkeit zu erfassen. Wie großartig kann Irmgard Keun Stimmungen erzeugen, doppelbödig und visionär und doch so federleicht. Und dann muss man manchmal nur in ihr Porträtfoto blicken, in dieses aufgeweckte, schelmische, geschminkte Gesicht mit dem leisen Spott in den Augen. Es spricht für sich: Sie weiß.
Irmgard Keun (1905–1982) hat es in ihrem Roman »Nach Mitternacht« geschafft, das Unheimliche, das unwiderruflich Bedrohliche der Lebenssituationen der Menschen im Nazi-Regime zu schildern und zu komprimieren. Der Versuch in die Liebe zu fliehen, in eine Wanderung, in den Alkohol, in irgendeine Zuflucht, in eine Party, in irgendetwas, was einem noch Halt zu geben vermag in einer immer haltloseren Welt, wo das Kind den Vater an die Nazis verrät und die Schwester den Bruder, wo man die Schreie der Gefolterten hört aus dem Gefängnis, wenn man mit der Straßenbahn daran vorbei fährt … Ehrlich gesagt, es ist unglaublich, wie die damals 32 Jahre alte Irmgard Keun das alles in die 200 Seiten packen konnte. »Nach Mitternacht« ist eine flackernde Momentaufnahme, die lediglich einen Zeitraum von zwei Tagen umfasst und die Beobachtungen so spielerisch-naiv aus dem Mund der blutjungen Protagonistin Sanne kullern lässt, dass man inne hält: auf welches Messers Schneide tanzt sie da bloß. Keun hat diesen Roman 1933 begonnen und 1936 im Exil fertig gestellt, was bedeutet: sie ist eine Zeugin von innen.
Mit »Gilgi – eine von uns« und »Das kunstseidene Mädchen« hat Irmgard Keun Sinn setzende Romane der frühen 1930er Jahre geschrieben, Sozialporträts von jungen Frauen auf Identitätssuche in der Weimarer Zeit. Und sie war eine von ihnen. Berufstätig, ausgebildete Stenotypistin, später kurz Schauspielerin, dann Schriftstellerin: ihr Lebenslauf verrät ihre Neugier, ihre Lust auf einen eigenständigen Lebensentwurf, auf Emanzipation. Die Romane werden berühmt. Unterstützung erfährt sie von Alfred Döblin, Kurt Tucholsky. Im Exil in Ostende und später in den Niederlanden lernt sie Stefan Zweig kennen und Joseph Roth, mit dem sie eine große Liebe verbindet, Egon Erwin Kisch, Ernst Toller, Hermann Kesten und Heinrich Mann.
Die Frauengestalten, sie die erfand, waren mutig, selbstironisch, fähig, für sich allein zu sorgen, schlagfertig, verliebt, treuherzig, solidarisch, empathisch, frisch – keine einzige Figur aus Keuns Erfindungskosmos möchte man missen. Sie sind zeitlich ganz fern – und werden einem doch so nah.
Es ist also ein überzeugender Griff in die Archive, den die Initiatoren des Programms »Frankfurt liest ein Buch« mit »Nach Mitternacht« nun getan haben. Eine richtige kleine Feier, auf die man sich uneingeschränkt freuen kann. Das Programm dazu ist üppig: Lesungen, Spaziergänge auf den Spuren des Romans, Veranstaltungen und Diskussionen zu »Frankfurt im Nationalsozialismus«, musikalische Lesungen, darunter Jo van Nelsens Grammophonlesungen, und natürlich die Dramatisierung im Kammerspiel Frankfurt von »Nach Mitternacht«. Die offizielle Eröffnungsveranstaltung findet am 2.Mai in der Deutschen Nationalbibliothek statt, inoffiziell geht das Programm schon am 28.4. mit einem Stadtrundgang mit Christian Setzepfandt los. Schluss ist am 15.5.

Susanne Asal (Foto Irmgard Keun: © Ullstein)

www.frankfurt-liest-ein-buch.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert