Gallus-Theater: E9N zeigt »Tagebuch eines Wahnsinnigen«

Der Teufel tanzt HipHop

Jubel, Trubel, Traurigkeit: Mit einem opulenten Bilderbogen auf einem reich kolorierten mediterranen Klangteppich bringt das Ensemble 9. November (E9N) in einer eigenen Fassung Nikolaj Gogols »Tagebuch eines Wahnsinnigen« ins Gallus-Theater. Überraschend sind die Raum-, Ton- und Farbeskapaden nicht wirklich, wenn Helen Körtes Regie Musik, Tanz, Pantomime, bildende Kunst, Film und Schauspiel auf der Fiebig-Bühne zum Gesamtwerk aggregiert.
Die 1836 entstandene surreale Groteske um den Titularrat Poprischtschin hat es aber auch in sich. 50 Jahre vor Kafkas Geburt schickt der ukrainisch-russische Schriftsteller die nach Karriere und Liebe dürstenden Sinne des kleinen Beamten auf eine Berg- und Talfahrt, die ihn  in elliptischen Kurven aus der Realität befördert. Doch geht jemand wirklich die Realität verloren, wenn er nach Zeichen der Zuneigung suchend das Hündchen der vergötterten Cheftochter Sonja sprechen hört? Ist es ein Realitätsverlust, wenn es ihm gelingt, im diffizilen politischen Geflecht der europäischen Mächte die vakante Stelle des spanischen Königs zu besetzen? Oder gewinnt er nicht viel mehr neue Realitäten?
»Schöne heile Welt« benennt Körte ihr Einstiegsvideo, das eine helle kleine Parkgesellschaft mit gespielten glücklichen Vierbeinern zeigt, bis ein teuflischer HipHop-Jünger die Harmonie zerstört und eine Garde Cartoon-Snoopys aufmarschiert. So macht uns das Entrée deutlich, dass man nicht alles verstehen muss, was gefällt. In Stummfilm-Schwarzweiß gekleidet fügt sich eine pantomimische Chaplinade des trostlosen Bürodaseins an, ein städtisches Phänomen der Zeit, das Gogol schon in »Der Mantel« zur Rampe von Verwirrungen macht. Michael Fernbach, der den Protagonisten gibt, zeigt an der Seite des sich berückend bewegenden Pantomimen und Tänzer Damaso Mendez als Abteilungsleiter eine beeindruckende Virtuosität.
Mit der Sprache und der Farbe erobert auch der süße Wahn des kleinen Mannes die Bühne. Seine Kontaktversuche mit den bunt-dressierten sprechenden Hunden (Simone Greis, Raija Sikhavirta) und der aufreizend schönen Sonja (Elena Thimmel) gipfeln in der romantischen Sequenz eines Gondola-Rendezvous, von dem bei Gogol nirgends die Rede ist, was man Körte wie Poprischtschin aber nachsehen muss, so wundervoll präsentiert sich Sonjatschka in den mmer wieder neuen bunten Kleidern Margarete Berghoffs.
Die Musiker Jens Hunstein und Uwe Oberg intonieren und improvisieren mit einer Vielzahl von Instrumenten das turbulente Geschehen. Reihen sich in den Phasen des Hoffens und Sehnens noch sanfte Chansons und Liebeslieder (J’attendrais, Plaisir d’amour) schmiegsam ein, so ballen sich zu Poprischtschins herrlich bebilderten Königsvisionen die schrägen Weisen zu einer royalen Revue. Von Sirtaki und Flamenco über Hoch auf dem gelben Wagen bis zur alles krönenden Kampfcantate der italienischen Frauenbewegung( La Lega). Hieronymus-Busch-Bilder und Auszüge des von Gogol inspirierten Menschenfresser-Textes von Lu Xun leiten Poprischtschins alias Ferdinands II käsig beleuchtetes trauriges Ende in der Anstalt ein. In Ketten wähnt er sich der gefolterte Protagonist der Inquisition ausgeliefert an einem betörend schönen Abend

Winnie Geipert (Foto: © Sabine Lippert)
Termine: 4., 5., 6., 7. November, 20 Uhr
www.gallustheater.de, www.e9n.de

 

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