Hans Christoph Buch öffnet seine Schatzkiste: »Tunnel über der Spree«

Frühreif war er. Und begabt. Kaum Abitur und schon Mitglied der Gruppe 47. In Wetzlar geboren, auf Haiti aufgewachsen, in Berlin viel Wind gemacht. Der ganz große Wurf als Romancier blieb ihm wohl versagt. Dafür ist er als Intellektueller bekannt geworden. Engagiert, kenntnisreich, vielsprachig. Er kennt die Welt und Kollegen in aller Welt. Er hat also viel zu erzählen. Jetzt hat er erst einmal seine deutschen Erinnerungen ausgepackt.

»Wenn er nicht auf Reisen ist, lebt er in Berlin«, meinte einmal sein Kollege Hans Magnus Enzensberger. Hans Christoph Buch, Essayist, Roman- und Reiseschriftsteller, berichtete viele Jahre aus den Kriegs- und Krisengebieten der ganzen Welt: Haiti, Kambodscha, Ruanda, Bosnien. Er fragt sich, was eigentlich diese Berichte mit Literatur zu tun haben und meint: »Sehr viel, weil Kunst und Literatur Seismographen sind, die Risse im Fundament registrieren und künftige Beben vorausahnen« lassen. Buch schreibt über seine Erinnerungen vom Literaturbetrieb, dem kulturellen und politischen Leben der 60er und 70er Jahre in Berlin und seine vielen Begegnungen mit Schriftstellern und Künstlern. Buch hatte bei seinen Kritikern keinen leichten Stand. Als er Romane schrieb, hieß es: »hätte er doch weiter Reportagen verfasst, statt uns mit Romanen zu behelligen, die nicht in Deutschland, sondern in Afrika oder Haiti spielen«. Buch zeichnet einfühlsame, kenntnisreiche Porträts seiner Kollegen und Zeitgenossen. Fast überschwänglich lobt er seinen Freund Peter Schneider als »einen Denker«, der, »statt unwiderrufliche Dogmen« zu predigen, Skepsis und Zweifel propagiert. Unter den strammen Linken hat er sich damals keine Freunde gemacht. Buchs subjektive Beschreibungen sind, ohne sarkastisch zu werden, oft witzig und treffend, z.B. über Klaus Schlesinger: »Schlesinger ist die einzige mir bekannte Person, die in einer Berliner Kneipe ein Eisbein in die Küche zurückgehen ließ mit der Begründung, es sei nicht fett genug«. Ein klares Urteil hat Buch über Grass. Bei ihm gab es »mit Selbstherrlichkeit gepaarte Rechthaberei«, die Buch aber dennoch verteidigt, weil sie »von Herzen kam und deshalb Respekt verdient«. Einen großen Unterschied sieht er in »Grass als öffentlicher Person, die wie ein heidnischer Donnergott Blitze schleuderte, verletzend grob und übellaunig sein konnte, und der Privatperson, die höflich, zuvorkommend und aufmerksam, ja liebenswert war«. Buch besucht Martin Walser in Nußdorf, wo es natürlich selbst gebackenen Kuchen gibt, »um den letzten Dinosaurier der deutschen Literatur in seiner natürlichen Umgebung agieren zu sehen«. Enzensberger bleibt für Buch »so rätselhaft wie seine literarische Physiognomie«, einem Menschen, der »selbst nicht mehr wusste, hinter welcher Facette seiner multiplen Persönlichkeit das Ich des Autors sich verbarg«. Der Verleger Siegfried Unseld »hatte den bulligen Charme eines Schwimmlehrers«. Hermann Hesse »verglich ihn mit einer Dogge« und Franz Xaver Kroetz fand, »er sah aus wie unser Bodyguard, nicht wie unser Verleger«. »Tunnel über der Spree« nannte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine von Theodor Fontane inspirierte Vereinigung Berliner Schriftsteller, die Hundert Jahre später von H. Ch. Buch und Peter Schneider für kurze Zeit noch einmal wieder belebt wurde. Seine teils sehr persönlichen Erinnerungen verdanken sich ›dem Geist‹ dieser Kopierung. Es ist ein Lesebuch über die Gruppe 47, die 68er-Revolte, aber auch der Versuch, »Vergangenheitsbewältigung, politische Verkrustungen und dogmatische Erstarrungen« zu beschreiben und aufzubrechen. Buch schreckt nicht davor zurück, auch die Kuriositäten der damaligen Revolte zu benennen. »Damals galten geschlossene Türen als bürgerlich-reaktionäres Symbol der Vereinzelung und Privatheit, während offene und ausgehängte Türen zweierlei signalisierten: den frischen Wind der Befreiung, aber auch die Kontrolle des Einzelnen durch das Kollektiv.«
Buchs Lesebuch ist ein schönes, auch nützliches Geschenk für seine Zeitgenossen samt Nachgeborenen, das heißt für die Omas, Opas und Enkel.

Sigrid Lüdke-Haertel
Hans Christoph Buch: Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt. 255 S., 20 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert