453 Tage seit der letzten richtigen Leiche. Fiona Griffith und ihr Kollege machen in ihrem Büro Jagd auf Dinosaurier – doch, doch: das erklärt sich –, um der Langeweile zu entkommen. Da endlich gibt es wieder einen richtigen Mord. Eine enthauptete Archäologin, in ihrer Brust zudem drei Speere. Dann noch ein toter Wissenschaftler, eine Geiselname im Nationalmuseum von Cardiff. Alles weist auf König Artus und sein Schwert Excalibur. Und das mit einer realitätstüchtigen Ermittlerin wie Fiona Griffith? Oh weia. Wie kann das gehen?
Geht, sogar ganz prima. Autor Harry Bingham ist ein Magier der Königsklasse. »Fiona. Das tiefste Grab« ist sein sechster und leider bisher letzter Fall für eine der interessantesten Ermittlerfiguren der vergangenen zehn Jahre. Die seltsame junge Polizistin aus Cardiff/ Wales hat eine – gelinde gesagt – bipolare Störung. Sie leidet am Cotard-Syndrom und sagt von sich: »Ich habe mit dem Tod weit mehr Zeit verbracht als die meisten anderen Menschen …«
Fiona ist eine Heldin mit begeisternder Widerstandskraft, ebenso verletzlich wie risikobereit, kratzbürstig und seltsam, neugierig und draufgängerisch, dauernd an einem inneren Abgrund. Am ehesten verwandt mit Andreas Pflügers blinder Polizistin Jenny Aaron. Nur, dass sie eine Schnodderschnauze hat und eine innere Grammatikpolizei, die Sätzen Handschellen anlegen kann.
Die blendend geschriebenen Fiona-Romane sind alles andere als Ware von der Stange, sie sind aufregende Kriminalliteratur im Grenzland des Innovativen und gehören zur absoluten internationalen Spitzenklasse. Bei kaum einem Autor freue ich mich zudem mehr auf die Nachbemerkungen zu seinen Romanen, Harry Bingham hat viele Trümpfe und Überraschungen in seinem Ärmel. »Das Universum ist voll wundersamer Dinge, die geduldig darauf warten, dass sich unsere Sinne schärfen«, lautete das Motto des dritten Fiona-Romans. Den Serienauftakt läutete Harry Bingham mit einem Beckett-Zitat ein: »Zuerst tanzen, später denken«. (Dance first. Think later. It’s the natural order.)
In seinem früheren Leben war Harry Bingham Investmentbanker bei J.P. Morgan, später bei der europäischen Förderbank für Osteuropa, er hat einige Sachbücher und Schreib-Ratgeber verfasst und eines der besten Literaturfestivals Englands organisiert. Seine Schriftstellerkarriere begann er 2001 mit dem Epos »The Money Makers«, vier weitere voluminöse Belletristik-Werke folgten. Dann ist ihm Fiona Griffiths begegnet: »Die meisten Kriminalromane haben Männer mittleren Alters als Helden, Personen von Gewicht und Substanz. Ich wollte das Gegenteil. Fiona ist eine Frau, sie ist klein und jung, sie hat einen niedrigen Dienstgrad, und sie arbeitet für die Polizei von Süd-Wales, nicht gerade den Nabel der Welt. Es hat mich interessiert, eine eher marginale Figur in den Mittelpunkt zu stellen und mit ihr all die Themen zu untersuchen, die unser heutiges Leben ausmachen.«
Der Reiz dabei: Zusammen mit Fiona schaut Bingham weit über den Tellerrand der Provinz hinaus. Finanzbetrügereien großen Ausmaßes, Waffenhandel, Menschenhandel, Regierungskriminalität, verdeckte Ermittlungen, Geschäfte ohne Rücksicht, Gewalt in vielen Formen, auch ganz banal im Alltag, die normale und die ganz große kriminelle Gier, die Anfälligkeit dafür und wie die Welt sich immer schneller dreht, das alles bildet sich sinnlich ab in Harry Binghams Romanen. Fionas Stimme pulsiert – Übersetzerin Andrea O’Brien, die mit einem Iren verheiratet ist, hat dafür einen pfiffigen, kraftvollen Sound entwickelt, auch Übersetzer Kristof Kurz muss hier erwähnt werden. Fiona zu lesen macht gegenüber den vielen blutleeren Übersetzungen, die einem oft die Füße einschlafen lassen, großen Spaß. Wo zum Beispiel schon habe ich mal jemanden als »Erklärbär« bezeichnet gesehen?
Was mir in den Fiona-Romanen wieder und wieder gefällt, das ist die Sache mit der Empathie. Gegenüber Menschen wie auch gegenüber Sachverhalten. Gegenüber dem Zustand unserer Welt.
Ihr Cotard-Punkt tritt auf, wenn zwei tödliche Kräfte aufeinander treffen: Depression und Dissoziation. Das disloziert sie von ihren Gefühlen und macht ihre Welt eintönig grau, versetzt sie zurück ins Teenageralter, macht wieder ein Mädchen aus ihr, das zwei lange Jahre von sich glaubte, tot zu sein. Cotard-Patienten können sehen, wie ihr Fleisch verwest und von Maden bevölkert wird. Erstmals beschrieben wurde das Syndrom 1880 vom französischen Neurologen Jules Cotard (1840–1889). Er schilderte den Fall einer 43-jährigen Patientin namens »Mademoiselle X«, die glaubte, kein Gehirn zu haben und tot zu sein, und verlangte deshalb, verbrannt zu werden. Cotard bezeichnete ihren Zustand als »délire des négations«, als wahnhaften Glauben an die eigene Nicht-Existenz. Man bezeichnet die Krankheit auch als »nihilistischer Wahn« oder als »Walking Corpse Syndrome«. Dieser Zustand aus der traumatischen Kindheit kann immer noch über Fiona schwappen. Sie sagt: »Es ist einfacher, sich eine Persönlichkeit auszudenken als diejenige zu verstehen, die ich bin«.
Harry Binghams Erzählmethode langweilt nicht mit langen Rückblenden oder Erklärungen, mit scheinbar leichter Hand bringt er uns Fionas Zustand/Zustände und ihre Weltsicht näher. Das kann mitten in einem Dialog sein, in kurzen Gedanken seiner Ich-Erzählerin, in scheinbar konfusen Momenten von Verwirrung oder scharfen Bewusstseins. Blicke aus seltsamer Vogelperspektive auf die Welt, dazu ein Erzählduktus mit Rhythmus und Tempo, eine Tour de Force, ganz wunderbar geschrieben. Die Plots sind plausibel, ohne vorhersehbar zu sein, die Schrauben werden – darauf kann man sich bei Bingham verlassen – deutlich weiter angezogen als in der Konvention. Die Dialoge sind knackig, die Bücher verdienen das Adjektiv »smart«.
Die Romane des passionierten Felskletterers Bingham sind zudem sehr schöne Polizeiromane. »Talking to the Dead« hat ein schönes Bild: »Polizeiarbeit ist wie Gerüstbau. Es gibt einen alten Witz, warum eine irische Expedition am Mount Everest scheiterte. Sie hatten kein Gerüstbaumaterial mehr. Ho, ho. Aber genauso würden auch wir Cops das Ding ersteigen. Nur mit dem Unterschied, dass uns das Material nicht ausgehen würde. Wir würden einfach weitermachen, Stange für Stange, Klammer für Klammer. Interviews. Aussagen. Dann Tests. Fingerabdrücke. Eine Million Daten. Tausende Stunden geduldiger, gründlicher Arbeit. Erbarmungslos, methodisch, unausweichlich. Und eines Tages, wenn deine halb erfrorenen Finger ein weiteres Gerüstbrett hochhieven, merkst du, dass der Berg zu Ende ist. Das Sonnenlicht erreicht dich horizontal. Du bist auf dem Gipfel angekommen«.
Wie glaubwürdig also kann ein realistischer Kriminalroman über Excalibur denn sein, fragt sich Harry Bingham in seinem Nachwort selbst. Nun, den Handel mit gefälschtem und gestohlenem Kulturgut gibt es wirklich. Unter dem Chandler-Deckmantel von Binghams Erzählfigur lauert Sherlock Holmes und der weiß sich im viktorianischen Nebel bestens zu bewegen. Eine wunderbare Krimireihe findet so mit diesem Band ein (offenes) Happy End. Auch verlegerisch: Bingham war mit seinen ersten beiden Fiona-Romanen bei uns ziemlich unbeachtet geblieben. Der zu Rowohlt gehörende Wunderlich Verlag, der bereits Philip Kerr und dessen Nazi-Zeit-Detektiv Bernie Gunther neu zu beleben verstand, errettete diesen Autor dann mit Hardcovern – das wirkte werthaltig. So gibt es nun mit Fiona eine großartige Reise zu tun. Höchste Empfehlungsstufe.