Noch einmal Neuseeland – und ein Rückflug in der Holzklasse, mitten in Platos Höhle
— Von Alf Mayer.
Am elften Tag unseres Lockdowns in Christchurch kommt das Ende unerwartet schnell. Als wir am Sonntag vor Ostern spätnachmittags vom vorsichtig distanzierten „social gathering“ mit unseren Nachbarn zurückkommen, ist der Termin für den Rückholflug nach Deutschland da – vier Tickets waren uns zuvor geplatzt, einmal via Tokyo, einmal via Island inklusive, Dubai oder Singapur auch. David und Rose, durch die wir ins schöne Wohnviertel Merivale nahe des gewaltig großen Hagley Parks gekommen sind – siehe auch „Everything Is Going To Be Alright“ in der letzten Ausgabe -, haben das Treffen angeregt und so gut wie alle Nachbarn sind beim privaten Bi-Why-Oh (BYO) im großzügigen Wendehammer unserer Sackgasse dabei. Bring Your Own gilt dabei nicht nur für die Getränke sondern auch die Sitzgelegenheiten. „Social distance“ wird gewahrt, aber sie alle wollen „the Germans“ sehen und sprechen, die da bei JR in seinem Haus logieren, seit das Land binnen 48 Stunden in den Lockdown ging. Tja, und einfach nur, weil wir sagen, dass wir wieder nach Neuseeland kommen werden, kehren wir mit Einladungsoptionen in gleich vier Ferienhäuser zurück. Gastfreundschaft ist ein anderes Wort für Kia Ora.
„Social distance“ mit unseren Nachbarn in Christchurch © privat
Am Tag zuvor haben wir noch JRs roten 1965er Mustang entstaubt und poliert, David und Rose und manch anderen Nachbarn sind wir immer wieder bei unseren täglichen Spaziergängen begegnet. Solange man zu zweit in Christchurch unterwegs ist, gibt es keine Probleme. Überhaupt beobachte ich nie ein Eingreifen der Obrigkeit (okay, landesweit gibt es ingesamt 5800 Fälle, lese ich später). Die Kiwis regeln das mit „Phase IV“, der schärfsten Form des Lockdowns, ohne viel Wimpernzucken einfach selbst. Beim Einkaufen darf pro Paar oder Familie nur ein Abgesandter in den Supermarkt, drinnen ist es durchaus angenehm und luftig, das Personal enorm hilfsbereit, draußen unterhält man sich nachbarschaftlich auf Distanz. Immer wieder gibt es freundliche Gesten und ein Lächeln – „its not personal“ weicht uns eine Spaziergängerin aus. Eine Gesellschaft ermuntert sich gegenseitig zum Durchhalten und es ist schön, ein Teil davon zu sein.
JR (links) und der Autor mit dem 1965er Mustang Cabrio © privat
Jetzt also Sonntag, 16:30 Uhr, E-Mail von Air New Zealand, im Auftrag der deutschen Bundesregierung: Rückholflug morgen Montag, 14.15 Uhr, bitte unbedingt vier Stunden vorher am Flughafen sein. Die Einladung gilt es bis 18 Uhr zu bestätigen, sonst verfällt das Ticket. Im Kleingedruckten die Mitteilung, dass es sich um eine Reservierung in der Business Class handle. Ziemlich schöne Mail also für Vera. Sie hat bei der Registrierung auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes wahrheitsgemäß angegeben, dass ihre Medikamente bald zu Ende gehen.
Solch eine „medical condition“ habe ich nicht zu bieten, also gibt es auch keine Mail für mich. Kein Ticket. Air New Zealand antwortet auf Nachfrage, nur ausführende Airline zu sein, man würde tun, was immer „The Consulate“ in der Hauptstadt Wellington anordne. Auf eine Mail von mir meldet sich die Deutsche Botschaft zügig: Ich solle mir keine Sorgen machen und einfach mit zum Flughafen kommen, man finde eine Lösung.
Letztes Abendessen mit JR. Mein Bœuf bourguignon schmeckt aufgewärmt noch besser als am Vorabend, die Eton Mess von Vera ist immer noch ein Fest. Dass wir Drei die Essensreste von gestern wie ein Festmahl genießen, zeigt, wie unkompliziert sich unsere kleine Corona-Hausgemeinschaft entwickelt hat. JR spendiert einen guten Tropfen, „Arrogant Frog“, kommt aus Frankreich, wir stoßen auf ein Wiedersehen an. Dafür, dass wir für unseren coolen, alten Anwalt vor zwölf Tagen noch völlig Fremde waren, haben wir uns mit ihm in der „bubble“ pudelwohl gefühlt. Er hat es uns angenehm gestaltet, will immer noch kein Aufhebens davon machen. Das sei doch normal. So sind sie, die Kiwis.
Montag früh auf leeren Straßen zum Flughafen. Wir sind heute der einzige Flieger der abhebt, so gut wie aller Flugverkehr auf NZ ist seit zehn Tagen eingestellt. Zwei Polizisten ziehen gemächlich eine Runde, ansonsten wird das eine rein deutsche „Show“ im Terminal. Einige handgestrickte Schilder, ein knappes Dutzend deutsch(sprachig)er Konsulatsmitarbeiter in Warnwesten. Wir sind der erste Rückholflug von der Südinsel. Am Freitag war eine Maschine aus Auckland gegangen, eine andere, erste, von dort bereits zehn Tage vorher. Dann hatte die neuseeländische Regierung einen Stopp verfügt, nachdem klar wurde, dass rund 12.000 Deutsche auf einen Rückflug warten. Es galt, gerade in den ersten Lockdown-Tagen eine Stampede quer über die Inseln zu den beiden internationalen Flughäfen Auckland und Christchurch zu vermeiden. Ein Sicherheitskonzept musste her.
Mehrmals galt es dann auf der Rückhol-Internetseite des Auswärtigen Amtes die eigenen Angaben zu aktualisieren, um Doppelmeldungen einzudämmen. So viele davon aber gibt es wohl nicht, die Zahl 12.000 bleibt konstant im „Botschafterbrief“, den man alle paar Tage aktualisiert im Internet nachlesen kann. Alleine diese Informationsschübe sind für das ältere deutsche Paar, dem wir (via JR) ebenfalls eine Unterkunft gefunden haben und das wir betreuen, eine Dauerquelle des Terrors. Ihre Internetanbindung läuft über die Tochter zuhause in Deutschland, zwölf Stunden Zeitunterschied, nur Textnachrichten und Mobiltelefon, dazu nur halbverstanden aufgeschnappte Fernsehbilder und Nachrichten, jede Menge Raum für Missverständnisse, Interpretationen, Ängste. Wir haben jeden Tag zu tun, ihnen den für sie nervenzehrenden Wartezustand erträglich(er) zu machen. „Wir kommen nie zurück.“/ „Die vergessen uns.“/ „Das geht schief.“/ „Das dauert noch ewig.“ / „Wir kommen nie zurück.“ … Und alle Angst immer wieder von vorn. Ka-rus-sel. Die Welt ist wirklich unendlich. Man kann alles glauben. Oder alles bezweifeln. So lautet ein Satz von Hans Henny Jahnn, den ich nie vergessen habe.
Die Medien, so wie sie sind – Angst verkauft sich am besten -, tun in diesen Wochen das Ihre, solch Dramen das Feld zu bereiten. Schnipsel reichen: verzweifelte Urlauber in Peru, Selfies aus einem Hotelzimmer in der Karibik, Schluchzen und Weinen vom Kreuzfahrtschiff, Gequengel von rund um die Welt, die sich gerade überall einzuigeln beginnt. Positive Geschichten haben hier wenig Platz. Etwa die von der sechsköpfigen deutschen Familie, die bei Christchurch in einem Campingbus ohne Heizung auf einem Parkplatz festsitzt. Binnen 20 Minuten nach Ausstrahlung im NZ-Fernsehen sind vier hilfsbereite Kiwis zur Stelle, die Familie kann sich aussuchen, welches warmes Notquartier sie beziehen will.
Zu dieser Zeit ist die CulturMag-April-Ausgabe mit meinem Bericht „Everything Is Going To Be Alright“ bereits online. Neuseeland-Korrespondentin Anke Richter kontaktiert mich deswegen, ihr Artikel bei Spiegel online gibt dann die Situation zutreffend wieder, wir als positives Beispiel kommen darin erst weiter hinten vor. Noch schärfer erleben wir das nach Rückkehr in unserer Lokalzeitung. „Die Angst, vergessen zu werden“, lautet dort der Aufmacher über Urlaubsheimkehrer, wieder sind wir nur eine positive Fußnote. Dramen sind gefragt, nicht positive Erlebnisse.
Meine sympathischen Reisegefährtinnen und -gefährten in der Holzklasse:
Alina, Maxi, Henryk, Fabian, Isabella und Hannah © privat
Aber zurück ins Terminal Christchurch, wo die geduldigen Konsulatsmitarbeiter inzwischen zwei Warteschlangen verarzten. Vera zieht mit der ihren davon – wir haben das so verabredet – sie gehört zu den Passagieren mit konfirmiertem Ticket. Wir andern sind Stand-by. Ich freunde mich einer Gruppe junger Menschen aus der Karlsruher Gegend an, sie haben den Lockdown zusammen in einem Haus am Strand verbracht, pro Kopf elf Dollar/ Tag, wollen versuchen, alle zusammen zurückzukommen. Wenn es heute nicht klappt, dann eben die nächsten Tage, sagen sie – ein bewundernswerter Zusammenhalt. Und viel gute Laune. (Und nein, es sind nicht ihr Medienkonsum, den ich hier im Anschluss schildere …)
Irgendwann geht es auch für unsere Schlange um die Kurve und in die abgesteckten Warteschleifen vor den Check-in-Schaltern. Die Konsulatsleute haben nicht zu viel versprochen. Alle Stand-bys kommen mit. Die Abfertigung durch New Zealand Air ist zügig. Gepäckzahl und Gepäckgewicht spielen keine Rolle. Ach, hätte ich doch oben in der Golden Bay in der Maori-Distillerie – die mit dem klarsten Wasser der Welt, optische Sehtiefe 63 Meter – zwei Flaschen mehr eingekauft, im Used Bookstore auf Coromandel mehr von den so gut erhaltenen John D. MacDonald-Pulps eingesackt, vielleicht doch einen Gewürztraminer von Johannishof mitgenommen. Zu spät. Ich habe meinen Sitz. Fensterreihe am Gang. 53 C, hinten in der Holzklasse, die ihren Namen aus den Anfängen der Eisenbahn und aus der vierten Klasse hat, in der es nur Holzbänke gab. Unsere Boeing 777-300 verfügt über 60 Sitzreihen, alle belegt, sie wird 340 Passagiere nach Frankfurt bringen. Unser Abteil hat 20 Reihen, macht 200 Passagiere – von denen ich vermutlich der Älteste bin. „Wir holen erst hauptsächlich die Jungen zurück“, hat mir einer der Männer vom Konsulat gesagt. Das ist dann auch noch auf den nächsten Fliegern so. Und Ältere eher vorne in der Business Class, Jugend und Standbys hinten.
Vera und ich kommen so nach 70 Reisetagen zu einem „social distancing“ von einander. Kurz nach dem Start fragt „Passenger 11 B“ über meinen Bildschirm um einen „Seat Chat“, das geht im Inflightsystem, ich antworte Vera per Adlersuchsystem, dass ich es hier hinten ganz unterhaltsam finde und sie sich kein schlechtes Gewissen machen soll, für mich ist es schlicht eine Verlängerung des Neuseeland-Abenteuers. Rings um mich wird bereits fröhlich auf allerlei Tastaturen geklappert, gepostet und gemailt. Hey, wir kommen nach Hause! Die Inflight-Entertainment-Programme von New Zealand Air werden erkundet, die Monitore in den Sitzrückwänden gehen in Betrieb. Aber wie es so schön heißt: You ain’t seen nothing yet.
Erst einmal gibt es Mittagessen, wir haben immerhin von 9 bis 14 Uhr am Flughafen gestanden. Die Kiwi-Crew ist äußerst reizend, versucht uns den Flug so angenehm wie nur möglich zu machen. Guter neuseeländischer Wein, auch der Tomatensaft schmeckt. „We are proud to be help you back to Germany“…. Viele der Borddurchsagen sind so schön, dass es nicht nur Beifall sondern auch reihenweise feuchte Augen gibt. Der Flug geht in den Abend, in die Nacht. 14 Stunden bis Vancouver, dort werden wir nur zwei Stunden auf der Rollbahn stehen, Crewwechsel, neues Catering, Grundreinigung in Kombüsen und Toiletten, dann weiter über den nordamerikanischen Kontinent, Grönland, Island. Ultima Thule. Loki, Thor und all die anderen Götter.
Die Zyklopenaugen erwachen.
In „meinem“ dunklen Abteil, Reihe 40 bis 60, je zehn Sitze pro Reihe, alle besetzt, flimmern die Monitore. Nicht zehn, nicht zwanzig, nicht fünfzig, nicht hundert, sondern so gut wie alle. Ich sitze mitten im Bildgewitter.
In Stahlheldengewittern.
Wir fliegen nach Westen um den Globus, dem Gestern ebenso entgegen wie dem Morgen, ins Zeitloch hinein, durchbrechen eine Datumsgrenze nach der anderen. 25 Stunden werden wir in der Luft sein, halb um die Erde, Abflug Montag 14:15 Uhr, Ankunft Dienstag 6:15 Uhr. Wurmloch des Universums. Gedehnt. Geschrumpft. Gebeamt. Gewarpt. Super Sonic Hero Time.
Superheldenzeit.
Als gäbe es eine heimliche Verabredung, sehen sich die jungen Menschen rings um mich fast ausschließlich Filme mit den Rettern des Universums an: The Avengers vor- und rückwärts, die X-Men hoch und runter, Star Wars I – IX, Terminator I – V, Alita – Battle Angel, Iron Man I – III, Transformers I – III. Es gibt auch eine Hobbit-Fraktion und eine für Herr der Ringe. All das für mich als Stummfilm, manchmal viermal der gleiche Film, etwas zeitversetzt, in einer Reihe oder einer Sichtdiagonale. Medienkunde pur. Und Re-Runs und Trailer … und … Zapping. … Mir ist es nicht eine Sekunde langweilig.
„Bordunterhaltung“, das war einmal kollektives Filmegucken, eine Leinwand je Abteil, später dann drei oder vier Deckenmonitore. Anfang der 1990er, ich war Kulturredakteur bei der Deutschen Lufthansa, saß bei mir im Büro am Airport Frankfurt eine Tür weiter die zweiköpfige Filmredaktion, damit beschäftigt, die „airline version“ (überhaupt zur Vorführung) geeigneter Filme zu erstellen – ohne all die Szenen, die Passagiere ängstigen oder Anstoß erregen könnten. Die Verleiher waren nur allzu willig, solche manchmal arg gekürzten Fassungen herzustellen, viele Filme aber schieden von vornherein aus. Ich erlebte den Säuberungswahn dann als Nachbar auch noch mit „airline news“, dem Versuch, eine wöchentliche Nachrichten-Show für über die Wolken anzubieten. Worte wie „Krieg“ oder „Explosion“ und deren Bilder waren zu vermeiden, das führte zu grotesken Verrenkungen. Heute, mit jedem Passagier als eigenem Programmdirektor, genügt eine Einblendung, dass der Film als anstößig oder gewalttätig empfunden werden könne, und dass vielleicht auch Kinder zusehen, die Bilder sind eh nicht mehr kontrollierbar – auch dies gehört zur Mediengeschichte.
Der junge Mann links von mir guckt den ganzen Flug über Kriegsfilme: Dunkirk, Full Metal Jacket, Heartbreak Ridge, Midway … irgendwann auch Lawrence of Arabia. Seine Freundin, die zwischen uns sitzt, kann sich nicht an Keeping Up with the Kardashians sattsehen, von der Tasmanischen bis zur Nordsee konsumiert sie eine Folge nach der anderen, die bisher 247 Folgen in 16 Staffeln würden für 40 Langstreckenflüge reichen. Links vor mir also silikongespritzte Wesen, irgendwo zwischen Hausfrau und Bordell, selbst die Babys und Kinder schon gestylt und gepimpt und Erwachsene als Schaufensterpuppen, die, nein, nicht Sex, aber irgendetwas Plastikhaftes miteinander haben. Strings und Decolletes blitzen ständig auf, Rundungen werden zur Schau gestellt, Lippen geschürzt, soweit das Siilikon es noch erlaubt. Da glitzert Öl auf Sonnenhaut, wird sich am Pool, im Bett, im Auto, in der Umkleidekabine, im Bad, auf dem Sofa oder auch mal am Boden gerekelt. Und in Szene gesetzt. Die Welt ist Pose. Die Welt bin ich – im Abbild. Die Wesen dieser „Reality“-Show betrachten sich nicht im Spiegel, sondern per Selfie. Das braucht ständig Nachschub. Klick. Klick. Klick. Alleine. Gemeinsam. Alleine. Und dann posten. Gucken. Posten, und gucken. Checken. Auf die Likes reagieren. Ach, ist es nicht Zeit für neues Makeup? Ach, schau, was ich für Dessous geshoppt und was ich für das Baby mitgebracht habe, ach ist das nicht süß? Versuch mal diesen Gloss, diesen Mascara. Oh nein, oh doch, oh great, oh Wow. Oh Super-Wow. Die Handys, mit denen die Kardashians hantieren, haben Screens so lang wie Unterarme. XXLong. Damit man möglichst viele Postings auf einmal checken kann.
Das von Kopf bis Fuß tätowierte Riesen-Hobbit-Paar mit den Rasta-Frisuren rechts von mir überm Gang spielt das Zahlenpuzzle „2048“, bei dem dauernd Zahlenkacheln verschoben (geswiped) werden müssen. Immerhin, der Score steigt im Lauf des Fluges von knapp 4.000 bis 12.200. Aber dafür müssen viele, viele Kacheln bewegt werden. Es sind die immer gleichen: 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512 und sofort. Auch ein Leben.
Auf dem Mittelmonitor vor mir, zu dem ich gut sehen kann, weil der 2,20-Jüngling vor mir seinen Sitz für weite Teile des Fluges maximalst nach hinten gekippt hat, mir direkt vor die Nase, der einzig unhöfliche Mensch des ganzen Abteils, läuft einsam ein Arthouse-Film. Niemand sonst schaut The Lighthouse von Robert Eggers (2019). Eigentlich müsste ich dem Vordermann sagen, dass das ein Film fürs Kino ist, so minimalistisch er auch sei, weil darin die Ton- und Bildebene heftig Kraft und Gewalt ausüben, was im Kleinformat arg gezähmt wird. Aber er hat eh den ganzen Flug lang die Kopfhörer auf. Das ist überhaupt das Ding: Knopf im Ohr. Und ringsum Schweigen. Lange her, dass der Schaffner im „Northern Explorer“, dem wunderbaren Zug, in dem wir quer durch die Nordinsel von Wellington nach Auckland fuhren, folgende Ansage gemacht hat: „Sie werden bemerkt haben, dass dieser Zug kein WLAN hat. Aber dafür sind unsere Fenster (windows) besonders groß, und wenn Sie es müde sind, in die Landschaft zu schauen, können Sie ja vielleicht mit ihren Nachbarn reden, und so tun als ob es 1995 ist …“
Jetzt aber ringt rings um mich der Held in tausend Gestalten: Ritter, Frontsoldaten, Bladerunner, Jedis, Elfen, Zwerge, Silver Surfer, Riesen, Mutanten, Terminatoren, Androiden, Rächer, Kämpfer, Sternenkrieger, Wonder Women. Lauter Superheldenfilme. Von wegen „postheroisches Zeitalter“. Die Welt als Rille, als Vorstellung – vom Chaos. Das Universum in ständigem Kampf und Aufruhr. Ein Sturm flackernder Bilder – wie in Platos Höhle, Abbilder einer Welt, die weniger denn je weiß, wer und wie und was und warum sie ist. Oder sein will.
„Die Welt als Chaos wäre der Inbegriff der Möglichkeit des Ich, sich in ihr und an sie zu verlieren – und nichts wäre dieser fragilen Identität wünschenswerter, als sich darin vergessen zu können“, lese ich später zuhause in Hans Blumenbergs „Phänomenlogische Schriften 1981 – 1988“ (Suhrkamp, 2018).
In all den Marvel- und sonstigen Superheldenfilmen lässt sich wie in einer Simulation beobachten, was unsere Weltkultur für möglich hält. Regierungen und Politik und Polizei haben versagt, nicht nur Rick Grimes in The Walking Dead weiß: „There’s no government, no hospital, no police. It’s all gone.“ Das Hollywood-Magazin „Deadline“ hat eine eigene Abteilung namens „Hero Nation“, eine wöchentliche Kolumne, die sich nur mit Filmnachrichten aus dem Comic-Fantasy-SciFi-Superhelden-Kosmos beschäftigt. „When the chips are down … these civilized people, they’ll eat each other“, sagt der Joker in The Dark Knight.
Hollywood weiß es längst: Die Welt ist aus den Angeln, spätestens seit den 1990ern. „The Sky is Falling. How Vampires, Zombies, Androids, and Superheroes made America Great for Extremism“, heißt ein beachtenswertes Buch von Peter Biskind aus dem Jahr 2018. Der Ausnahmezustand, in dem wir uns als Zivilisation schon lange vor Corona befinden, verlangt nach Helden mit Superkräften. Und hier sind sie. Unsere Schutzengel von heute.
Manche der jungen Passagiere sehen trotz dieser Bildgewitter noch nebenbei zusätzlich andere Filme und Clips auf ihrem Handy, machen darauf Video- oder Zahlenspiele, fahren Autorennen oder sammeln Punkte bei allerlei (für mich) stummem Krach & Boing. Alles ist andauernd hy-per-ak-tiv. Auf Krisenmodus, wie subkutan auch immer. „Ich bin, wenn ich nicht denke; ich denke, also bin ich nicht“, folgert Hans Blumenberg. „Im Denken spielt sich ab, was ich nicht bin, und sein kann ich daher nur, wenn ich nicht denke.“ Nur ja kein Stillstand, kein Moment der Kontemplation in dieser eigentümlichen Zwischenreich, diesem „bardo“ über den Wolken. Fern der Welt ihr doch so nah. (Siehe auch den großartigen Text von Berlin Pepper-Autor Johannes Groschupf in dieser Ausgabe.)
Einige Fensterblenden gehen hoch. Grandioser Sonnenaufgang über den Wolken. Frühstück. Anflug auf Vancouver. So schön habe ich die Rockies noch nie gesehen. Schneebedeckt. Tiefenscharf. Davor die Wasserwelt im gleißenden Sonnenschein, ein Prachtauftritt für den Pazifischen Nordwesten. Wir stehen auf der Rollbahn. Gleich wird Wolverine auf seinem Motorrad heranbrausen und zu den X-Men zusteigen, die hier an Bord schon seit Stunden aktiv sind. Sie können Verstärkung brauchen.
Die neue Air New Zealand-Crew, deutlich höherer Altersdurchschnitt als unsere erste, auch sie alles Freiwillige, jede Menge Maori-Krieger unter ihnen, hat die Regeln für unsere Ankunft in Frankfurt. Erst einmal müssen wir alle ein „contact sheet“ ausfüllen, Flugnummer und Sitznummer, komplette Kontaktdaten, auch E-Mail, und eine Ansprechperson für den Notfall falls wir zuhause in Quarantäne müssen. Wir sollten uns darauf einstellen, dass das Aussteigen in Frankfurt eine Weile dauern wird. Die „authorities“ würden Stau und allzu engen Kontakt vermeiden wollen, deshalb würde es Sitzreihe für Sitzreihe hinausgehen.
Wir fliegen über Kanada, Neufundland, Grön- und Island. Hallo Loki. Hallo Thor. Immer noch tun die Superhelden unermüdlich Dienst auf den Monitoren der kollektiven Traumfabrik, saust Ironman I–III durch die Stratosphäre, krabbelt Spiderman die Wolkenkratzer hoch, hält Superman Flugzeuge mit bloßer Hand auf, schleudert Captain America seinen Schild, geht Black Widow in die Hocke, führt Black Panther seine Krieger an. Dead Pool I–II benimmt sich ordentlich daneben, Hulk läuft ganz grün an, der Silver Surfer kurvt durch Straßenschluchten, Ant-Man schrumpft auf Mikrogröße, Mystique wird blau und rissig, die Menschliche Fackel beherrscht sich, Elektra trägt scharfe Strapse, Ghost Rider hat Augen wie glühende Kohlen, Hawkeye holt unnachahmlich elegant einen Pfeil aus dem Köcher und spannt den Bogen, Daredevil lächelt diabolisch, Aquaman macht etwas mit dem Kinn, Magneto aber kann das noch zehnmal besser.
Dazwischen die Jedis mit ihren Laserschwertern und der für mich nur stumm röchelnde Darth Vader. Die Hobbits krabbeln Berge hoch und hinunter, Viggo Mortensen hat den treuesten Blick, Gandalf den spitzesten Hut. Und da ist noch King Kong, da sind die Brontosaurier und Flugechsen aus Jurassic Park. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Die Schubladen der (Alb)Traumtraumfabrik quellen über mit Visu-Sensationen, ein computeranimiertes Seifenblasen-Dauerfeuer auf all den Monitoren.
Erdbeben, Kometen, Asteroiden, Explosionen, zerplatzende Welten, untergehende Städte, in All geschleuderte Gestalten, in der Luft gefangene Projektile, einstürzende Alt- und Neubauten, Bilder, die sich selbst nicht glauben und die nicht einen Moment still stehen können. Dürfen.
38 Jahre ist es her – eine Zeitspanne, die das Alter meiner Höhlengefährten übersteigt -, dass Rutger Hauer 1982 als traurig-schöner Replikant in der Philip-K.-Dick-Verfilmung von „Träumen Roboter von elektrischen Schafen“ im strömenden Regen weit oben an einer Hochhauskante stand und dem Blade Runner zuraunte:
„Ich habe Dinge gesehen, die Ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden bald verloren sein, in der Zeit, so wie die Tränen im Regen … Zeit zu sterben.“
Wenn ich jetzt nach links blicke, in die Sitzreihe vor mir, ist dort der einzige visuelle Gegenpol. Die geradezu behäbige, klösterlich schlichte Zwei-Mann-Welt von Der Leuchtturm, dessen Text- und Bildebene auf Journalen des 19. Jahrhunderts beruht. Erhabenes Schwarz-Weiß. Willem Dafoe und Robert Pattinson, manchmal eine Seejungfrau. Oder eine Möwe. Sonst nichts.
Irgendwann legt sich der Bildersturm. Frankfurt naht. Die Monitore erlöschen. Soviel Heldentum war nie. Wir sind für die Ankunft im Corona-Deutschland gerüstet. Filme als Impfstoff? Aber ja.
Jedenfalls ist da niemand – in Worten: niemand -, der uns nach der Landung kontrolliert. Auch das Aussteigen geht zügiger als gedacht. Je vier Sitzreihen à zehn Passagiere dürfen aufstehen, das Handgepäck nehmen und nach vorne gehen. Sollte man immer so machen. Es gibt kein Gedränge. Ein letztes Farewell der Crew, dann sind wir auf deutschem Boden.
Allein.
Automatische Grenzkontrolle. Niemand interessiert sich für uns. Niemand will uns Fieber messen. Befragen. Durchchecken. Niemand sammelt die Kontakformulare ein, die war alle ausfüllen mussten. Niemand will sie haben. (Das ist auch eine Woche später noch so, als „unser“ deutsches Paar zurückfliegt. 240.000 heimgeholte Deutsche sind so bei der weltweiten Rückholaktion des Außenministeriums ohne Erfassung ins Land gekommen, nur auf einem Merkblatt ermahnt, sich freiwillig selbst für 14 Tage zu isolieren.)
Der übliche lange Weg im Frankfurter Terminal 1 zur Gepäckausgabe, der Flughafen gespensterleer. Übliches Gedränge am Gepäckband. Man könnte das alles auf fünf Bänder verteilen, Platz wäre dafür. Aber hey. Corona ist draußen. Vor dem Flughafen.
Nee, da sind nur Taxis. Unser Fahrer extrem gut gelaunt. Zwar sei die Branche völlig am Boden, Frankfurt tot, keiner auf der Straße. Niemand fahre Taxi. Aber hier am Flughafen ist Goldgräberstimmung. „Wir haben die 200.000 nach Hause gefahren“, sagt unser Chauffeur. Die letzten Tage war er in Zürich und Kopenhagen, Leipzig und Hamburg auch. Wer hier ankommt, will nach Hause. Egal, was es kostet.
Auch wir registrieren achselzuckend, dass sich – neue Abzocknummer oder Fakt? – unser Heimweg verlängert, „weil die Autobahn gesperrt ist. Unfall.“ Hm. Wir sind ortskundig, wissen eine Abkürzung. „Gesperrt. Unfall“, erfährt der Fahrer per Funk. Noch ein Umweg. Die Taxifahrt wird doppelt so teuer wie sonst. Wahrscheinlich die große Taxi Man-Verschwörung – Endgame. Egal. Dienstag, 7. Apri 2020, 8:00 morgens. Wir sind zuhause.
Und ja: „Everything Is Going to Be Alright“, wie es im erdbebengeschüttelten Christchurch als Neoninstallation an der städtischen Art Gallery steht.
Alf Mayer
Beitragsbild: The Avengers – Endgame ©-Film-Frame-Marvel-Studios-2019
P.S.: Wir gehen 14 Tage in freiwillige Quarantäne, kommen aus einem der sichersten Länder der Corona-Zeit. Mit Stand 30. April gibt es in Neuseeland 19 Tote bei 1129 Infizierten und 1241 Genesenen. Phase IV, die schärfste Form des Lockdowns, konnte dort mittlerweile auf Phase III zurückgenommen werden – weil, so die Premierministerin, „das ganze Land verantwortungsbewusst und solidarisch gehandelt hat. Wir sind ein Whānau von 5,1 Millionen“, sagte sie nicht ohne Stolz. Dieses Māori-Wort steht für Großfamilie, bezeichnet einen Familienverband von drei oder vier Generationen, die kleinste soziale Einheit der Māori-Gesellschaft.
Insgesamt 26 Maschinen haben im Auftrag der deutschen Regierung Bundesbürger (und ein paar andere) aus Neuseeland heimgebracht. Die schwarzweiß lackierten Maschinen von Air NZ waren in Frankfurt ein ebenso exotischer Anblick wie dann die Lufthansa-Jumbos über Christchurch. Unser Nachbar David ist dafür einige Male zum Flugplatz hinaus geradelt, mailt uns begeistert davon. Und die Ehrenrunde eines LH-Kapitäns über der Erdbebenstadt macht Schule – als Salut an eine wirklich freundliche Ecke der Welt.