Er gehört zum Frankfurter Inventar – auch wenn er hier nie einen Kulturpreis bekommen hat. Die Stadt müsste ihm dankbar sein und sein Nachlass vom Historischen Museum an Land gezogen werden, so wie dort inzwischen die Fotoarbeiten des Bahnhofsviertel-Polizisten und Filmemachers Fred Prase archiviert sind und künftiger Ausstellung harren. Charly Weller, am 9. Oktober 1951 in Marburg geboren und am 27. April 2024 im mittelhessischen Annerod verstorben, war für einen gut Teil seines Lebens ein Frankfurter Original. Ein Völkerkundler sei an ihm verloren gegangen, schrieb ich einmal in einer Besprechung seiner insgesamt sechs Kriminalromane.
Das Nietzsche-Zitat »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein« eröffnete als Motto seinen Roman »Gallus«. Das war meines Wissens nicht nur der erste deutsche Kriminalroman, der die Waschbären-Plage zum Thema machte, es war auch ein formidabler Streifzug durch die Frankfurter Subkulturen. Die drogensüchtige Straßenkatze Reinhild ist darin eine typische Charly-Weller-Heldin, eine Nebenfigur, deren lebenspraktische Widerstandskraft beindruckt. Auf der Straße würden wir wohl an solch einer Person möglichst schnell vorbeigehen. Charly Weller macht uns mit ihr bekannt (und mit mindestens 15 weiteren schrägen Typen auch, pro Buch wohlgemerkt). Reinhild hat für sich das Schreiben entdeckt. Sie zeichnet auf, was sie erlebt, bringt es in Form. Kleiner Auszug: »Die Straßen voll von schwulen Bullen und läufigen Eskimos. Dazwischen Schwanzlutscher in dunklen Anzügen mit Kontoauszügen unter der Vorhaut und Nagellack-Nutten mit Kreditkarten im Schritt. Oh, Rektum, was magst du wohl anstimmen zum Heiligen Abend, wenn Atlas vom Bahnhof heruntersteigt und die neuen Riffs groovt zur jämmerlichen Entsaftung auf Barmer-Card.«
Den Max-Ophüls-Förderpreis gab es 1990 für »Schlammbeißer«. Das war ein No-Budget-Film, mit einer alten handaufgezogenen Bolex selbst gedreht, selbst geschnitten und mit Charly Weller selbst am Saxophon. Es ist und bleibt eine der besten Milieuschilderungen des Frankfurter Bahnhofsviertels: Frankfurt, ganz unten. Von Kurt Otterbachers Strandfilm mitproduziert, mit dem kürzlich verstorbenen Bert Schmidt und mit Dieter Reifarth im Produktionsteam, unter den Darstellern Klaus Dillmann, Hans Bornemann, Herbert M. Debes (als Zocker), Martin Loew, Michael Endres und Mechthild Rühl. Charly Weller hat danach bei rund 50 TV-Filmen Regie geführt, viel mit Hannelore Elsner gedreht. Nie aber war er dreckiger als beim »Schlammbeißer« – dies als Kompliment verstanden, als ästhetische Kategorie.
Zu dieser Freiheit kehrte er – inzwischen in Mittelhessen heimisch geworden und zeitweise Geschäftsführer bei Mittelhessen TV – auf andere Weise seit 2014 immer wieder zurück, nämlich als Autor regional geerdeter, lebens- und milieupraller Kriminalromane. Es begann mit einer wenig bekannten Siedlung in Gießen und einem faszinierenden Ausflug in die Welt der Manischen. Dort in der Arbeitersiedlung »Eulenkopf« ließen sich Schausteller nieder, ambulante Gewerbetreibende, Altwarenhändler, Roma und Sinti. Ihre Sprache ist bis heute, was man in Gießen »Manisch« nennt, ein Verständigungsidiom unter Bettlern, fahrendem Volk und kriminellen Subkulturen jenisch-rotwelschen Ursprungs, ein Soziolekt also gesellschaftlicher Randgruppen. Irgendwann auch von Schaustellern übernommen, erkennt man das Manische daran, dass der Ton von einer gewissen nasalen Atemnot unterlegt ist und die Os lang gezogen werden. Til Schweiger, von Weller einst oft als Hannelore Elsners Assistent in Szene gesetzt und selbst ein Manischer, liebte die Lesungen mit Charly Weller (auf YouTube zu finden).
Dem Gießener Kommissar Roman »Worschtfett« Worstedt – was für ein Name – und seiner Marathonlaufenden Kollegin Regina Maritz begegneten wir in »Eulenkopf«, »Finsterloh«, »Katzenkönig«, »Totenwind«, Bonames« und »Gallus«. Charly Weller hatte klar ein Faible für das, was man »Sozialer Brennpunkt« nennt. So kamen wir auch nach Wien und in seine Unterwelten, nach Namibia, Kenia, Ostanatolien und den Vogelsberg. Und immer wieder ganz viel Frankfurt. Von der Bordsteinkante. Auf moderne Art war Charly Weller so etwas wie es der Volksschriftsteller Ludwig Thoma für München gewesen ist. Er war zudem Fotograf, Musik- und Theatermacher. Für seinen Kurzfilm »The Only Forgotten Take of Casablanca« errang er den Jury-Preis von Cannes. Er wusste immer, »Wetzlar ist nicht Washington« (so ein Kleines Fernsehspiel von ihm), war bodenständig und weltläufig, immer neugierig, ein großer Genießer und Delikatessen- und Weinkenner. Ich sehe ihn neben Ludwig Thomas »Engel Aloisius« im Weißwursthimmel. Möge das Manna ihm munden. Und alles, was es da sonst noch gibt.