Was macht ein Lehrer oder eine Lehrerin mit einer Klasse von Kindern, deren Eltern zu den oft aus fernen Ländern kommenden »Bildungsfernen« gehören und die in ihrer Mehrheit zuhause nicht Deutsch sprechen? Die Antwort ist theoretisch einfach, in der Praxis aber umso schwerer zu geben: Sie sollten den Schülern Verständnis entgegen bringen und versuchen, deren Phantasie anzuregen und ihnen spielerisch Wissen zu vermitteln. Und sie müssen sie schlicht und einfach mögen, auch wenn sie ihnen massiv auf die Nerven fallen. Kurz, sie müssen ihren Schutzbefohlenen im Klassenraum ein zweites Zuhause bieten.
Herr Bachmann erfüllt meisterhaft diese Anforderungen. Denn eines fällt besonders den Älteren unter den Kinobesuchern auf: In seiner Klasse 6b der Georg-Büchner-Gesamrschule im nordhessischen Stadtallendorf weiß der Lehrer oft mehr über seine Schüler als deren Eltern. In früheren Zeiten war es dagegen verpönt, den Lehrern allzu tiefe Einblicke ins Elternhaus zu geben. Es gab für beide Seiten eine Privatsphäre.
Statt stur dem Lehrplan zu folgen, spielt Herr Bachmann Gitarre und musiziert mit den Zwölf- bis Vierzehnjährigen, oder er lässt sie Bilder malen und Geschichten erfinden. Und er lobt sie auch, wenn die erfundenen Geschichten in mangelhaftem Deutsch vorgelesen werden. Zudem versucht er, die Fortgeschrittenen dazu zu bringen, den noch nicht lange in Deutschland lebenden Klassenkameraden bei Rechtschreibung und Grammatik zu helfen. Schließlich handelt es sich hier um die Eingangsstufe einer Gesamtschule. Alle Leistungsstufen sind noch in einem Klassenverband zusammen, um am Ende des Schuljahres in drei Schulzweige aufgeteilt zu werden.
Bei der Zusammensetzung seiner Schülerschaft (nach dem Pressetext aus insgesamt neun Herkunftsländern) ist es natürlich eine ganz besondere Leistung, einige auf den gymnasialen Zweig zu hieven (an den Bildungsstand einstiger Gymnasiasten, die sich zu dieser Zeit bereits im zweiten Jahr mit Englisch, Französisch oder gar Latein herumgeschlagen haben, mag man gar nicht denken und auch nicht, was das für den »Wissenschaftsstandort Deutschland« bedeutet).
Gewiss hilft diesem Ausnahmelehrer seine Vergangenheit als Revoluzzer, Folksänger und Bildhauer. Dem Seiteneinsteiger war es zunächst unangenehm, an die Schule zurückzukehren, bis er seinen Weg, am Lehrplan entlang zu schrammen, gefunden hatte. So macht er aus der Schule eine Art Kita, was Marie Speth in ihrem Dokumentarfilm mit derselben Empathie schildert, wie sie Herr Bachmann seiner Klasse entgegenbringt.
In ihrer Langzeitstudie beobachtet sie auch, wie sich Schülerinnen und Schüler allmählich zu selbstbewussten Individuen entwickeln. Das Spektrum reicht von der scheuen, streng verpackten kleinen Muslimin bis zur charmant-burschikosen Südländerin, und besonders interessant ist die Interaktion zwischen ihnen. Bei den Jungen stechen der etwas egoistische Osteuropäer, der sich weigert, den vermeintlich Faulen zu helfen, und der aufmüpfig Gelangweilte hervor, den es zu allen Zeiten gab.
Weil die Filmemacherin sich nicht mit der Schilderung der Schule begnügt, sondern auch, den aktuellen politischen Vorgaben folgend, Stadtallendorf als traditionelle Einwandererstadt mit bedeutender Industrie schildert und die unrühmliche Geschichte mit Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs anreißt, kommt »Herr Bachmann und seine Klasse« auf die stattliche Länge von mehr als dreieinhalb Stunden. Als Regisseurin, der es schwer fällt, sich von Teilen ihres Materials zu trennen, steht Marie Speth damit allerdings nicht allein.
Claus Wecker (Foto: © Madonnen Film)
HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE
von Maria Speth, D 2021, 217 Min.
Dokumentarfilm
Start: 16.09.2021