Im Jahr 1933 lebten etwa zehn Millionen Jüdinnen und Juden in Europa und in der Sowjetunion. Rund 3,5 Millionen überlebten den zweiten Weltkrieg.
Die Phase ganz unmittelbar nach Kriegsende, die Selbstvergewisserung, der Neubeginn, die Flucht, das Bleiben – diese Bewegungen, die Zweifel, der Alltag, die Angst, der Überlebenswillen, der Geist, die Kultur, die erneuten Pogrome, die Hetze, die Scham, die Unterstützung und Hilfe der Nachbarn, all dies ist bislang noch nicht in einer Ausstellung thematisiert worden, so die Direktorin des Jüdischen Museums, Miriam Wenzel. Jetzt gibt es sie, am 3. September eröffnet als zweite Wechselausstellung des neuen Jüdischen Museums. »Unser Mut. Juden in Europa von 1945–48«. beruht auf einem Forschungsprojekt des Jüdischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur.
Das Präludium bildet eine an die Wand projizierte Landkarte mit Lichtpunkten, die jeweils eine jüdische Gemeinde symbolisieren. Aus der Dunkelheit leuchtet eine einzige blinkende Fläche in der Mitte Europas. Ein Klangteppich aus alten jiddischen Liedern untermalt diese Szene. Die Leuchtpunkte erlöschen eins nach dem anderen, flackern kurz auf, verlöschen dann gänzlich.
Vorlage für die Landkarte bildete ein Bühnenbild des Katset-Theaters, das 1946 in Bergen Belsen gegründet worden war und es bis 1947 auf 47 Vorstellungen brachte. Das schreibt sich jetzt so nüchtern nieder, aber gibt es eine bessere Erklärung für »Unser Mut«?
Die Ausstellung ist in sieben leicht windschiefe Pavillons gegliedert, die jeweils eine Stadt, eine Stätte, ein Dorf porträtieren, mit ihrem ganz exemplarischen Zugriff auf die jüdische Lebenswelt vor 1933 und den Neuanfang. Quer durch Mitteleuropa ziehen sich diese Beispielstädte, Amsterdam ist darunter und auch Budapest als »Stadt der Überlebenden«, Ostberlin, in denen die Juden zunächst nicht als Verfolgte des Naziregimes erster Klasse galten, sondern nur die Kommunisten, und vom Bezug von Lebensmittelkarten ausgeschlossen waren, und zwei sehr gegensätzliche Orte in Polen. Die niederschlesische Gemeinde Dzierzoniow versuchte, ein polnisches Jerusalem zu bauen, einen neuen Zufluchtsort mit Arbeitsplätzen in Industrie und Landwirtschaft. Sie versuchte, eine Teilautonomie zu erreichen, doch dieses Projekt zerbarst am Widerstand innerhalb der polnischen Bevölkerung; die 16.000 Bewohner flüchteten. In einer weiteren polnischen Gemeinde gelang es überhaupt nicht, wieder Fuß zu fassen.
In Frankfurt konnte sich unter dem Schutz der US-Army eine neue Gemeinschaft aufbauen. Als geografischer Mittelpunkt und Drehkreuz befanden sich in unmittelbarer Umgebung der Stadt Lager für Displaced Persons wie in Zeilsheim, das Eleanor Roosevelt 1946 als Vorsitzende der Menschenrechtskommission besuchte, und Friedberg.
Aus dem apulischen Bari sind die vielleicht bewegendsten Bilder überliefert: wie junge hoffnungsvolle Leute in Schlauchbooten die Überfahrt durch das Mittelmeer nach Palästina üben: Weg, nichts wie weg von diesem verhassten todbringenden Kontinent.
Verbunden sind diese Präsentationen mit den Biografien jüdischer Zeitzeugen: wie der von Rosa Orlean, die sich in Krakau auf die Suche nach den Überresten der jüdischen Gemeinde machte und grausam erneut vertrieben wurde; wie der von Eva Szepsiki, die ihr Poesiealbum durch all die Zeiten retten konnte und die später in Frankfurt heiratete; oder der von wie Abraham Rozenberg, der jeden Freitag für Lebensmittel aus den Beständen der US Army boxte. Ein vielstimmiger Chor ist es, der in der neuen Wanderschau im Jüdischen Museum in ein Lied vom Mut einstimmt. Den Mut, den es braucht, nach 1945 exakt dort ein neues jüdisches Leben zu beginnen, wo das alte völlig zerstört, zerschmettert, getötet worden war.
Es ist eine sinnliche Ausstellung geworden, was vor allem daran liegt, dass man dem Museumskonzept des Hauses folgend auch hier wieder Geschichte durch Geschichten begreifbar macht. In jedem Pavillon warten symbolisch zwei Cicerone auf die Besucher, um sie durch diese Zeit zu geleiten. Dieses Konzept geht überwältigend gut auf. Die überlieferten Texte und Biografien werden von Mitgliedern des Schauspiel Frankfurt gelesen, man kann sich über Kopfhörer einhören. Diese damit erzeugte Nähe zum tatsächlich gewesenen Leben berührt sehr.
»Unser Mut« ist eine kleine kostbare Arche Noah mit sorgfältig ausgestellten Fundstücken und Dokumenten, Filmausschnitten, mit Fotos, Plakaten, einer Maschine zur Herstellung von Matzen, einem Brautkleid, einem Brautbaldachin, und nicht zu vergessen: Exemplaren der in Zeilsheim hergestellten Zeitschrift »Unser Mut«, die der Ausstellung den Titel gab.
Das Museum veranstaltet ein Begleitprogramm, teilweise in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut, vom 21.9.2021 bis zum 17.1.2022: Standrundgänge durch Zeilsheim, Lesungen, Konzerte und Filmpräsentationen im Deutschen Filmmuseum.
Susanne Asal
Foto: Demonstration im DP-Lager Poppendorf 1947, nachdem jüdischen DPs die Einreise nach Palästina von den britischen Behörden verweigert wurde. © Mémorial de la Shoah, Paris
Bis 18. Januar
Di. u. Do. 10–21 Uhr; Mi., Fr. – So. , 10–18 Uhr
www.juedischesmuseum.de