Der Kopf am Beckenrand
Der Frankfurter Verleger Joachim Unseld hat ersichtlich ein Gespür für aufstrebende Talente. Die Zahl seiner Entdeckungen ist weiter gestiegen: Julia Wolf, in Groß-Gerau aufgewachsen, lebt in Berlin. Mit ihrem zweiten Roman hat sie in Klagenfurt gleich einen Preis geholt.
»Ich habe ja alles, was ein Mann, ich habe ja alles gehabt. Irgendwann ist auch mal gut.« Walter Nowak, 68, ist ein ausdauernder Schwimmer. »Ich schwimme bei Wind und Wetter, bei mir gibt’s keine Ausreden.« Jeden Tag schwimmt er seine Bahnen, meist einen Kilometer. Eines Tages, Yvonne, seine zweite Frau ist beruflich unterwegs, wacht er, auf den Badezimmerfliesen liegend, auf. Sein Kopf schmerzt, er blutet heftig. Allmählich erinnert er sich: abgelenkt durch eine Frau, die vor dem Becken steht, verschätzt er sich und knallt mit dem Kopf an den Beckenrand. Irgendwie schafft er es nach Hause. Bruchstückhafte Erinnerungen, Gedankenfetzen gehen ihm durch seinen stark lädierten Kopf. Erinnerungen an seine Kindheit, seine Heirat, seine Trennung, sein zweites Leben mit Yvonne. Walter ist noch klein, als der Großvater aus dem Krieg zurückkommt. »Der Mann wie ein Denkmal, nach dem Beschuss. Im Moment vor dem Sturz. Lädiert, aber immer noch Stein. Die Falten mit einem Meißel in sein Gesicht getrieben, seine Augen wie Murmeln, ohne Blick.«
Der Titel, »Walter Nowak bleibt liegen«, suggeriert bereits, dass etwas zum Stillstand gekommen ist. Etwas? Vielleicht sogar das Leben? Gedanken, Gedankenfetzen, bleiben zurück. Auch die Sprache bricht ab. Die Sätze bleiben unvollständig (aber immer verständlich! Das ist, nebenbei gesagt, perfekt gemacht).
Ein böser, ein brutaler Großvater, der schlug und quälte. Er wollte, dass Walter, das uneheliche Kind seiner Tochter und eines GIs, weggegeben wurde. Schnitt. Nowaks gescheiterte Ehe mit Gisela und die Reaktion seines kleinen Sohnes Felix: »Der Junge nickte, und ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Tränen, ein Kind weint doch. Wenn der Vater die Familie verlässt, gibt es Tränen, sollte man meinen. Aber nicht Felix, der nickte nur: Okay.« Unter seiner Schädeldecke tobt es. Dann die Ärztin, die ihm kürzlich sagte, er müsse operiert werden ein »Männerproblem«. Schade, denkt er, »dass man erst rückblickend weiß, welches die guten Jahre waren.« Nowak hatte eine Firma für Hebebühnen. Er hatte sich vom Lehrling zum Firmenchef hochgearbeitet. Eines Tages steht Yvonne in seinem Büro. »Blonde Person. Im Petticoat, die Haare zum Pferdeschwanz.« Sie macht Führungen, berichtet über die Geschichte der Stadt und will Nowak als Zeitzeugen interviewen. Bald wird sie sein »Yvonnenschein«. Sie sucht auch weitere Zeitzeugen, ungern stellt er den zu Schorsch her. Der ehemalige Klassenkamerad hatte viel Geld im Hintergrund. Er machte einen auf »Revoluzzer«, ging nach Nicaragua. Zurückgekehrt, übernahm er die Kanzlei seines Vaters. Nowak erinnert aber auch: »Schorsch allen voran, wenn es hieß, Bastard! Mit dem spielen wir nicht. Das ist so lange her, ich bin ein erwachsener Mann, darüber stehe ich, natürlich.«
Ein ganzes Leben zieht (an den Lesern) vorüber. Die Bruchstücke, die Nowak erinnert, fügen sich zusammen.
Nowak wollte nie seinen nach Amerika zurückgekehrten Vater kennenlernen. Ganz anders sein Sohn. Der macht das Grab seines Opas in Nebraska ausfindig. Der Vater gibt den Widerstand auf. Wenn schon Amerika, dann richtig. Mit offenem roten Cabrio durch Florida und natürlich nach Memphis, zu Elvis spektakulärem Anwesen. Felix ist durch nichts zu beeindrucken. Kopfhörer auf den Ohren lässt er alles kommentarlos an sich vorbei rauschen. »Hunger, immerhin hat er Hunger, dieser picklige Junge, halb Mann, halb stark, immer stärker, stopft Burger und Steaks in sich hinein.« Der Vater muss sich zusammen reißen, »ihn nicht bei den Schultern zu packen, zu schütteln, verdammt.« Die beiden haben sich nichts zu sagen.
Vergangenheit und Gegenwart fallen zusammen. Plötzlich hat Nowak Hunger. Er rappelt sich hoch. In der Tiefkühltruhe liegt noch ein halbes Wildschwein. Seine Exfrau hatte dafür das beste Rezept. Mehrfach ruft er sie an. Er redet wirres Zeug. Beunruhigt schickt sie (offenbar) den Sohn zum Vater. Als der in dessen Küche das geschlachtete Schwein sieht, dazu den blutverkrusteten Vater – auch an Komik wird hier nicht gespart – brechen in dem Sohn alte Blockaden auf. Unvermittelt gesteht er: »Ich bin dreißig und komme immer noch nicht klar.« Der Vater hofft, jetzt könnte eine Annäherung stattfinden. »Wir hatten einen schlechten Start, jetzt fangen wir nochmal von vorne an.« Das Ende? Oder doch ein neuer Anfang? Die Frage geht an den Leser. Ein dolles Buch, originell und berührend.