Kent Haufs Roman »Abendrot«, eine wahre Entdeckung

Der Mann wurde in Colorado geboren. Er hat in Colorado gelebt. Er ist in Colorado gestorben. Seine Romane, sechs an der Zahl, spielen in Colorado. In einer fiktiven Kleinstadt namens Holt. Eine Partnerstadt von Sherwood Andersons »Winesburg, Ohio«. Das heißt: ein Universum im Kleinen. Von den Romanen Harufs sind noch zwei weitere bei Diogenes erschienen: »Lied der Weite« und »Unsere Seelen bei Nacht« (mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt). Auch die sollte man lesen. Denn hier lässt sich die Mentalität eines großen Landes ablesen.

In Holt, Colorado, diesem kleinen Kaff, ist wirklich nicht viel los. Natürlich gibt es auf der Main Street eine Kneipe, einen Diner und sogar ein Lokal, in dem man am Wochenende tanzen kann. Jeder kennt jeden, dessen Familie und deren Geschichte. Irgendwie sind alle aufeinander angewiesen.
Da sind zum Beispiel die McPherson-Brüder, Harold und Raymond. Beide nie verheiratet, leben sie gemeinsam, anspruchslos und zufrieden auf ihrer Ranch. Für die schwere Arbeit mit den Schweinen, Rindern und Kühen brauchen sie sich gegenseitig. In ihr ereignisloses, hartes Leben tritt überraschend die schwangere 18-jährige Victoria. Zwei Jahre bieten sie ihr Unterkunft und finanzielle Unterstützung. Dann zieht sie mit der kleinen Katie in die zwei Stunden entfernte Stadt Fort Collins, um zu studieren. Es ist bitter für die beiden Männer, »wenn du weg bist, werden wir zwei müde, alte Ackergäule sein und dich schrecklich vermissen«.
Eine andere Familie, Betty, Luther und die beiden zwölf und sechs Jahre alten Kinder leben in einem heruntergekommenen Wohnmobil. Sie bekommen ihr Leben nicht in den Griff, leben von Sozialhilfe, haben keinen Mut, keine Energie. Jeder Tag ist für sie ein Kampf.
Ein Mann verlässt seine Frau und zwei Kinder, um in Alaska sein Glück zu versuchen. Die Mutter kümmert sich zwar weiter um die Kinder, kocht, schickt sie in die Schule, versorgt ihre verletzten Knie, aber ständig laufen ihr die Tränen aus den Augen. Das elfjährige Mädchen baut sich eine eigene kleine Welt, zusammen mit einem gleichaltrigen Jungen, der nur noch einen alten Opa hat. Sie richten sich einen verlassenen Schuppen her. Sie möblieren ihn und »vertrieben ihre Einsamkeit, indem sie sich leise im flackernden Kerzenlicht unterhielten, während es draußen rings herum dunkel wurde«. So schaffen sich die Kinder eine Welt, in der sie sich geborgen fühlen.
Haruf verfügt über eine beeindruckende, klare Sprache. Hoffnung ist für die Cowboys, Kellner, Lehrerinnen, für diese Typen in Holt, an denen das Leben vorbeigegangen ist und gehen wird, ein Fremdwort, doch für andere keimt sie immer wieder auf.
Auf der Ranch der McPherson-Brüder ereignet sich eine Katastrophe. Harold wird von einem Bullen umgerannt und tödlich verletzt. Raymond, der ihm zu Hilfe eilen will, wird dabei ein Bein zerquetscht. Ein Leben lang hatten sie »gemeinsam die Arbeit erledigt … wie ein altes Ehepaar«.
Doch während Raymond im Krankenhaus ist, kümmern sich Nachbarn um sein Vieh, die Ziehtochter Victoria zieht wieder zu ihm. Selbst dieser alte Mann erlebt noch Augenblicke des Glücks. In dem Lokal, in dem auch getanzt wird, fordert ihn Rose, eine entfernte Bekannte auf, mit ihr zu tanzen. »Ich meine, wir könnten auch ein bisschen tanzen.« »Also, lieber nicht, Ma’am. Ich tanze nicht, ich habe noch nie getanzt.« »Versuchen könnten wir es.« »Ich weiß nicht Ma’am, Sie werden es bitter bereuen.« »Kommen Sie, wir probieren es aus.« Haruf beschreibt diesen unbeholfenen Menschen, seine hölzerne Art mit Frauen umzugehen, mit ergreifenden, einfühlsamen Dialogen. Es ist tröstlich, dass der alte Raymond am Ende seines Lebens noch Zärtlichkeit, Geborgenheit, sogar Liebe erfährt. Die Menschen in diesem gottverlassenen Kaff, darunter viele »einsame Seelen«, führen fast alle oft ein hartes, entbehrungsreiches Leben. Aber allein schon die Empathie, mit der Kent Haruf sie beschrieben hat, gibt (auch uns) – Trost. In Holt, Colorado.

Sigrid Lüdke-Haertel
Kent Haruf: »Abendrot«, Roman.
Aus dem Amerikanischen von pociao, Diogenes Verlag, Zürich, 2019, 415 S., 24 €

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