Stanislaw Mucha ist der Weltmeister der magischen Kino-Reisen. Er folgt in seinen Filmen am ehesten Traumpfaden oder auch Albtraumpfaden durch Gegenwart und Erinnerung; er versucht, die Menschen in ihren Räumen zu verstehen und die Räume durch ihre Menschen. So begab er sich schon auf die Suche nach den Ursprüngen der Familie von Andy Warhol, suchte nach der Mitte Europas, folgte den Spuren von Dracula und umkreiste das schwarze Meer. Nun folgt er der »Straße der Knochen«, Kolyma, dem Weg durch die Kälte des Nordens, der buchstäblich auf den Gebeinen der Strafgefangenen errichtet wurde.
Die Reise beginnt in der Bucht von Magadan, dem einstigen Einfuhrhafen für die Strafarbeiter, der sich den Beinamen »Tor zur Hölle« wahrhaft verdient hat. Wie wir bald erfahren, ist die Geschichte der Deportationen und Verbannungen keineswegs mit dem Ende der alten Sowjetunion beschlossen worden. An einem Bretterverschlag, aus dem heraus Hotdogs und Pizza verkauft werden, fragt Mucha die junge Verkäuferin nach dem Gulag. »Gulasch?« versteht sie, und wir wissen nicht, ob sie wirklich nichts weiß oder ob sie einfach nichts wissen will von der Vergangenheit aus Mord, Leid und Zwangsarbeit für die Straße und für die Minen. Kohle, Kupfer, Uran und bis jetzt immer noch Gold werden hier gefördert. Der Reichtum verschwand stets, und er verschwindet immer noch, wie jene Tonnen Gold, von denen berichtet wird, die von Menschen gestohlen wurden, die zu mächtig sind, als dass man sie belangen konnte. Was bleibt, sind die Einwohner. Überlebende, Deportierte, Gestrandete. Mucha bringt sie zum Sprechen. Das ist die eine Seite seiner grandiosen Begabung: Menschen dazu bringen, vor seiner Kamera etwas von sich preiszugeben, von dem sie offensichtlich manchmal selbst überrascht sind. Nie filmt Mucha mit verborgener Kamera, nie missbraucht er eine Situation, um Menschen zu denunzieren. Er gibt nur die Gelegenheit dafür, dass sich das Dramatische, das Trauernde, aber auch das Groteske und das Widerständige entfalten können. Es geht um Dialoge, und immer wieder weist uns der Film akustisch oder durch die Einstellung darauf hin, dass sie über gewisse Entfernungen geführt werden, so oder so. Natürlich gibt es da wirklich skurrile Charaktere, von den wortkargen Eisfischern am Anfang über den jakutischen Experimentator, der in seinem »Sommerlaboratorium« daran arbeitet, die Menschen vermittels Elektrizität zu verjüngen und seinen eigenen blinden Vater auf diese Weise traktiert, bis hin zu dem Schamanen, dem wir die Einsicht verdanken, dass nicht nur Kolyma, sondern auch ganz Europa auf den Gebeinen der Menschenopfer errichtet wurde.
Die zweite Seite von Muchas Begabung ist der Blick dafür, wie sich das Grauenvolle, das Absurde und das Schöne immer wieder begegnen; mit Hilfe seines Kameramannes Enno Endlicher erzeugt er einmal mehr einen ästhetischen Sog; selbst, was man so »schäbig« nennen könnte von der Wirklichkeit, erhält hier oft eine fast märchenhafte Stimmung. Und in aller Armut und Widersprüchlichkeit behalten die Dinge wie die Menschen ihre Würde.
Die Reise also führt über den »längsten Friedhof der Welt«, die Straße, an denen sich erkennbare wie verschüttete Massengräber aneinander reihen, an der sich bei allen Bau- und Minenarbeiten die Bagger buchstäblich durch Knochenberge fressen und an der sich die Ruinen von Lagern und Arbeitsstätten finden, neben den Siedlungen von Menschen, die hier nicht wegkönnen, selbst wenn sie es wollten. Es sind Menschen, die hier »Heimat« erkennen wollen, so entfernt ihre Geburtsorte auch sein mögen.
Ein anderer roter Faden, neben den Erzählungen der älteren Menschen, die die Lager noch erlebt haben, und sehr, sehr unterschiedliche Arten entwickelten, mit ihren Erinnerungen daran umzugehen (zwischen ohnmächtigem Zorn und fast schon liebevoller Pflege von Fundstücken), sind Auftritte von Jugendlichen, die mehr oder weniger patriotische Tänze und Lieder zu Disco-Pop-Begleitung vorführen. Die meisten von ihnen wollen weg, und doch ist klar, wie sehr auch sie schon Teil dieser Kultur auf der Straße der Knochen sind, die so geradeaus von Stalin zu Putin zu führen scheint, dass jemand die beiden Namen schon mal verwechseln kann …
Am Ende der Reise sind wir in Jakutsk, und die beiden Extreme scheinen noch einmal auf. Unversöhnlicher Zorn und gelassene Akzeptanz des Leids. Und wir haben vielleicht bemerkt, dass es nichts Unwichtiges, schon gar keine unwichtigen Menschen auf der Welt gibt. Jedenfalls nicht, wenn man ihnen mit Neugier und Respekt begegnet.