»Schlammbeißer« hieß Charly Wellers mit dem Max-Ophüls-Förderpreis ausgezeichneter Spielfilm von 1990. Es war ein No-Budget-Film, mit einer alten handaufgezogenen Bolex selbst gedreht, selbst geschnitten, und mit ihm selbst am Saxophon. Es ist und bleibt eine der besten Milieuschilderungen des Frankfurter Bahnhofsviertels: Frankfurt, ganz unten. Charly Weller hat danach bei vielen Filmen Regie geführt, viel mit Hannelore Elsner gedreht. Nie aber war er dreckiger als beim »Schlammbeisser« – dies als Kompliment verstanden, als ästhetische Kategorie.
Zu dieser Freiheit kehrt Charley Weller auf andere Weise seit 2014 nun immer wieder zurück, nämlich als Autor regional geerdeter Kriminalromane. Es begann mit einer wenig bekannten Siedlung in Gießen und einem faszinierenden Ausflug in die Welt der Manischen. Der Gießener Kommissar Roman »Worschtfett« Worstedt und seine Marathon laufende Kollegin Regina Maritz sind uns bisher in folgenden Romanen begegnet:
In »Eulenkopf«, »Finsterloh«, »Katzenkönig«, »Totenwind«, Bonames« und jetzt in »Gallus«.
Charly Weller hat klar ein Faible für das, was man »Sozialer Brennpunkt« nennt. In der Arbeitersiedlung »Eulenkopf« in Gießen ließen sich Schausteller nieder, ambulante Gewerbetreibende, Altwarenhändler, Roma und Sinti. Ihre Sprache ist bis heute, was man in Gießen »Manisch« nennt, ein Verständigungsidiom unter Bettlern, fahrendem Volk und kriminellen Subkulturen jenisch-rotwelschen Ursprungs. Irgendwann auch von Schaustellern übernommen, erkennt man das Manische daran, dass der Ton von einer gewissen nasalen Atemnot unterlegt ist und die Os lang gezogen werden. Worschtfett dürfen Wellers Kommissar nur die Einheimischen nennen, vorzugsweise jene Gießener, die manisch sprechen. Aber natürlich hängt ihm der Name hinter vorgehaltener Hand überall an, dafür ist er einfach viel zu schön.
Finsterloh ist ein heruntergekommenes Gelände am Stadtrand von Wetzlar, einst ein ehemaliges Sammellager für Juden, danach eine nahezu gesetzesfreie Zone für fahrendes Volk, Schausteller und Altwarenhändler, Kohlenausträger, Maronenbrater, Scheren- und Messerschleifer, Kesselflicker. Ein Stück dreckige Provinz. Wellers Kriminalromane sind Heimatkunde von unten. Das Autokennzeichen WZ übrigens steht für »Wilde Zone«.
In »Bonames« folgen wir dem Kleintransporter einer Installationsfirma zur Wohngemeinschaft Bonameser Straße, von den Einheimischen nur »Platz« oder »ach, das Zigeunerlager« genannt. Eine Siedlung abseits urbaner Anbindungen, in den 1950er Jahren als Wohnwagenstandplatz errichtet, an dem sich zeitweise mehr als fünfhundert Schausteller, Zirkusartisten, Schrotthändler, Flüchtlinge sowie Sinti und Roma mit ihren Familien ansiedelten. Seit 1980 gibt es hier ein Zuzugsverbot, heute leben dort noch rund siebzig Menschen.
Die Romane »Katzenkönig« und »Totenwind« führten Worstedt und seine Kollegin Regina Maritz bis nach Wien, in den Vogelsberg und nach Namibia. Jetzt also »Gallus«, was in politisch weniger korrekten Zeiten genauso gut »Kamerun« heißen könnte. Historisch ist das Gallus das frühere Galgenfeld an der mittelalterlichen Stadtgrenze Frankfurts. Der Name leitet sich von der Galluswarte ab, die jedoch eigentlich die Galgenwarte war, einer der vier mittelalterlichen Wachtürme der Stadt. Ab Ende des 18. Jahrhunderts sollte der Heilige St. Gallus den zweifelhaften Ruf des Viertels verbessern helfen, auch eine 1905 neugebaute katholische Kirche ist dem Heiligen geweiht. Produktion, Handwerk und Transportwesen prägten das Mischgebiet, Hauptbahnhof und Güterbahnhof machten es im Zweiten Weltkrieg zum Ziel alliierter Luftangriffe. Gallus ohne Viertel heißt der Stadtbezirk auf Antrag der Grünen seit 2007.
Volkstümlich als »Kamerun« bezeichnet wird es immer mal wieder seit Ende des Ersten Weltkrieges. Da waren an der Mainzer Landstraße französische Besatzungssoldaten stationiert – marokkanische Söldner. »Zu den Kamerunern gehen« sei das geflügelte Wort gewesen, wenn man im Gallusviertel ihre Kontrollpunkte überquerte. Eine andere Theorie verlegt sich auf den Ruß, der aus zahlreichen Schornsteinen auf den Stadtteil sank. »Schwarz wie Kamerun« sei es dort gewesen. Wieder andere meinen, der wenig von anderen Frankfurtern besuchte Stadtteil habe so fern vom Rest der Stadt gelegen wie die deutsche Kolonie Kamerun. Auch die Adlerwerke, in denen Schreibmaschinen hergestellt wurden, könnten einer anderen Theorie zufolge für den Namen verantwortlich gewesen sein – weil die Arbeiter oft mit von Schreibmaschinenfarbe befleckten Gesichtern aus der Fabrik kamen und man sie deshalb »Kameruner« nannte. So schwarz, Theorie Nr. 5, sahen auch die Arbeiter im Ausbesserungswerk der Bahn in der Idsteiner Straße aus, wo Dampflokomotiven entrußt wurden.
Also auf ins Gallus. Vorneweg gibt es als Motto ein Nietzsche-Zitat: »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Auf der zweiten Seite des Romans fahren wir durch die Gartenstraße in Sachsenhausen, blicken vom Ruderer-Dorf an der Gemarkungsgrenze zu Offenbach auf die Silhouette der Stadt und werden noch im Prolog Zeuge der Entsorgung einer Waffe – was natürlich später eine Rolle spielen wird. Ja, und dann kommt Reinhild. Schon im ersten Kapitel, vielsagend mit »Blanke Felgen« überschrieben, treffen wir sie bei der Arbeit an, erleben mit, wie sie sich von einem Freier aus dem »Moseleck« abschleppen lässt. Mit ihren 52 hat sie die besten Zeiten schon hinter sich, aber sie hat Erfahrung. Was jedoch nicht immer davor schützt, im brutalen Existenzkampf rund um den Frankfurter Hauptbahnhof nicht doch ausgetrickst und beklaut zu werden. Das ist ihr gerade passiert, entsprechend ist sie geladen. Jetzt wird es eng, die nächste Dröhnung zu bekommen.
Die drogensüchtige Straßenkatze Reinhild ist eine typische Weller-Heldin, eine Nebenfigur, deren lebenspraktische Widerstandskraft beindruckt. Auf der Straße würden wir wohl an so einer Figur möglichst schnell vorbeigehen. Charly Weller macht uns mit ihr bekannt (und mit mindestens 15 anderen schrägen Typen auch, pro Buch wohlgemerkt). Reinhild hat für sich das Schreiben entdeckt. Sie zeichnet auf, was sie erlebt, bringt es in Form. Kleiner Auszug: »Die Straßen voll von schwulen Bullen und läufigen Eskimos. Dazwischen Schwanzlutscher in dunklen Anzügen mit Kontoauszügen unter der Vorhaut und Nagellack-Nutten mit Kreditkarten im Schritt. Oh, Rektum, was magst du wohl anstimmen zum Heiligen Abend, wenn Atlas vom Bahnhof heruntersteigt und die neuen Riffs groovt zur jämmerlichen Entsaftung auf Barmer-Card.«
Meines Wissens ist »Gallus« der erste deutsche Kriminalroman, der die Waschbären-Plage zum Thema macht. Sehr schräg, sehr real. Auch hier schlägt der auf dem Land wie in der Stadt verwurzelte Charly Weller sehr gekonnt einen Bogen, der uns Stadtbewohnern das alles direkt vor die Tür holt. Wie ein abgetrenntes Ohr auf ein Feld bei Lich kommt, das bekommen wir auch mehr als zufriedenstellend erklärt. Weitere Schauplätze: Muschenheim, Ostanatolien, Kenia, Schotten, das Falltorhaus an der B 276, die Gebrauchtwagenhandel an der Mainzer Landstraße und viel Frankfurt von der Bordsteinkante. Mit Charly Weller kommt man herum.