Der japanische Filmemacher Hirokazu Kore-eda ist einem großen Thema auf der Spur: Dem Familienroman, was Erinnerung, Lüge und Wahrheit damit machen, wie die blinden Stellen darin gefüllt werden, wie Familie und Gesellschaft einander bedingen. Das hat er in seinen frühen Dokumentarfilmen ebenso behandelt wie in seinen Spielfilmen, die ihm und seinen Mitarbeitern eine Reihe von internationalen Preisen und eine cineastische Gefolgschaft einbrachten.
Hirokazu Kore-eda ist ein Realist, der auch Bereiche der Gesellschaft aufsucht, die sonst nicht eben als kinotauglich erscheinen mögen (»Shoplifters«, sein vorletzter Film, führte ohne Exotismus aber auch ohne die existentielle Verzweiflung, die wir aus japanischen und koreanischen Filmen der letzten Zeit kennen, an den unteren Rand der urbanen japanischen Gesellschaft), und zugleich ist er auch ein Poet, der seinen Geschichten einen zugleich grotesken und märchenhaften Glanz verleiht. Und man kann sich wunderbar verlaufen in den Filmen von Hirokazu Koreeda.
Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch von seiner ersten nicht-japanischen Produktion mit dem internationalen Titel »La vérité«, was, wie man bald ahnen kann, wiederum eine poetische Irreführung ist, denn die Wahrheit ist so leicht nicht zu haben, nicht einmal in einem mit drei Weltstars besetzten Kinofilm. Catherine Deneuve ist die Film-Diva, die mit Alter und Karriere kämpft und die gerade ihre Memoiren veröffentlicht hat, in der, wie es einmal als Filmzitat angedeutet wird, mehr Legende als Wirklichkeit gedruckt wurde. Juliette Binoche ist ihre Tochter, die aus den USA herübergekommen ist, wo sie als Drehbuchautorin erfolgreich war, zusammen mit ihrem von Ethan Hawke gespielten Ehemann, dessen Erfolg als Schauspieler sich in Grenzen hält und der gerade eine Alkoholkrise überwunden hat. Mehr oder weniger. Und da ist noch eine junge Tochter bzw. Enkelin, ein Ehemann, der mehr Gespenst als Familienmitglied scheint, und ein paar Leute vom Film und von den Medien, allesamt damit beschäftigt, Mythos und Wirklichkeit irgendwie zu sortieren. Schließlich spielt das ganze vor dem Hintergrund des glücklichen Durcheinanders einer Filmproduktion.
Im Zentrum des Geschehens steht natürlich die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter, und damit auch eine traumhafte Schauspielerinnen-Begegnung. Schließlich ist es nicht leicht, zu akzeptieren, dass die Mutter über die Familienbeziehungen kitschige Lügen verbreitet. So richtig sympathisch kommt erst einmal niemand in dieser bizarren Film-Familie herüber. Aber genau damit beginnt auch ein Prozess der Annäherung; das hier ist keine Bergmansche Seelen-Forschung, sondern ein Spiel der Perspektiven zwischen Selbstbild, Projektion und Entlarvung. Wahrheit und Lüge verhalten sich nicht wie ein Gegensatzpaar, sondern wie ein endlos geflochtenes Band. Aber damit ist die Lüge nicht einfach akzeptiert, sondern bleibt das schmerzhafte und destruktive Überlebensmittel. Wahrscheinlich ist es überhaupt eben dies: Film ist die paradoxe Arbeit an der Wahrheit.
Wie immer bei Hirokazu Kore-eda darf man auch hier bei aller Bewunderung für die zentrale Dramaturgie (eine Versuchsanordnung, die für sich genommen ja nicht vollkommen neu ist) das Gespür für die Ränder und Ausfransungen, für die Auslassungen und offenen Fragen nicht vergessen. Kaum verlässt man die »melodramatische« Mitte und sieht, nur zum Beispiel, das Geschehen durch die Augen des Mädchens Charlotte, schon bekommt das ganze wieder diesen typischen Hauch eines absurden Märchens. Es gibt hier auch wundersam komische Momente. Und wie immer besorgt der Filmemacher neben Drehbuch und Inszenierung auch die Montage selbst. Diese raffinierte Komposition von Flüssigkeit und Bruch verhindert immer wieder, dass man es sich in Genre-Konventionen bequem macht. Aber natürlich wäre das alles nichts, wenn nicht Deneuve und Binoche ihre jeweils eigenen Leinwand-Images zur Disposition stellen würden. Die entrückte Diva, in der eine gefährlich narzisstische Störung lauert, und die überkontrollierte Repräsentantin der skeptischen Generation. Die Beziehung der beiden ist komplizierter und widersprüchlicher als sie in Worten ausdrücken können, und sie ist intimer, als dass sich ein äußerer Ratschlag zur Lösung anböte. Nein, ein Feelgood-Movie wird »La vérité« nicht, auch wenn am Ende klar ist, dass diese Wiederbegegnung von Mutter und Tochter notwendig und, nun ja, »produktiv« war.
Natürlich ist Hirokazu Kore-eda gegenüber seinen japanischen Filmen hier etwas behutsamer, ein wenig milder vorgegangen, jedenfalls auf den ersten Blick. Das Film-Milieu lässt eine universale Metapher zu, die Abgründe sind hinter der eleganten Oberfläche verborgen, immer wieder löst sich Widersprüchliches in Spiel und Technik auf. Und genau das ist es, wovon dieser Film handelt, nicht nur im Plot und in den Dialogen. Eleganz ist immer beides, Verhüllung und Enthüllung der Wahrheit. Und »La vérité« ist ein verdammt eleganter Film.