Der erste Roman Minka Pradelskis »Und da kam Frau Kugelmann« (2005) beschwor noch einmal, aus der Erinnerung, die untergegangene Welt des Judentums. Ihr neuer Roman zeigt jetzt den Kampf der Überlebenden ums Überleben. Minka Pradelski, selbst Kind überlebender Juden, 1947 in einem Camp in Frankfurt am Main geboren, arbeitete nach ihrem Soziologiestudium als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut mit an dem Forschungsvorhaben: »Nachwirkungen massiver Traumatisierungen bei jüdischen Überlebenden der NS-Zeit«. Sie weiß, wovon sie spricht. Für den Roman hat sie viele Jahre gebraucht. Sie fühlte sich verpflichtet, vom Leiden und vom Leben ihrer Vorfahren zu erzählen.
Für einen frisch geborenen Säugling erweist sich der Junge, der bald Bärel heißen wird, als wahres Wunderkind. Er soll, zu diesem Zweck wurde er offenbar geboren, die Welt einmal besser machen. Bereits mit drei Monaten kann er laufen, sprechen und hat den Mund voller Zähne. Auch der Arzt ist erstaunt: er sieht aus, »als habe er die Welt schon einmal gesehen«. Doch der Säugling ist unzufrieden mit seinen Eltern. Die Mutter erscheint ihm als »unattraktive Greisin«, der Vater ist »verknittert« und »stinkt nach Tabak«. Es sind polnische Juden, die auf unterschiedliche Weise, er im KZ, sie im Untergrund, beide also mit Mühe und Not und nur durch glückliche Zufälle ihrer Ermordung entgangen sind.
Kein Wunder, dass nun ihr Kind die Welt, so, wie sie ist, samt seinen Eltern, nicht akzeptieren will. Es sind diese drei Figuren, der Vater, Bromberger, erst am Ende Leon genannt, Mutter Klara und der kleine Bärel, die jeweils aus ihrer Sicht das Erlebte in Ich-Form beschreiben. Kurz nach der Geburt des rotzfrechen kleinen »Rebellen«, begegnet Klara bei einem Spaziergang der »Teufelin Liliput«. So wurde die kleinwüchsige KZ-Oberaufseherin von den Häftlingen genannt. Die Begegnung mit der brutalen, zynischen Mörderin löst in Klara »einen Erdrutsch« aus. Danach spricht sie kaum noch, will nicht mehr aus dem Bett aufstehen und zieht sich in ihre dunkle Welt zurück. Bromberger, ihr Mann, hat die rettende Idee. »Als Ausweg aus dem Elend verordnete ich ihr die Schreibkur als Medizin.« Sie sollte »das Böse auf das Papier bannen«. Klara beginnt ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie und ihre Eltern wurden »von befreundeten Polen verraten« und kamen in ein KZ. Mit Hilfe der Eltern entkommt die 12jährige Klara. Mit einem großen schweren Koffer, vollgepackt mit Lederhäuten und, gut versteckten vier Dollar, zieht sie los. Erst kommt sie bei angeblichen Freunden unter, die sie bestehlen und weiter schicken. Eindringich, ergreifend, zynisch und manchmal auch witzig beschreibt Minka Pradelski den Leidensweg dieses Mädchens. Um zu überleben nimmt sie viele Stellen an. Sie putzt, bedient und arbeitet als Haushälterin. Damit man nicht merkt, dass sie Jüdin ist, betet sie innig in der Kirche und isst Schweinefleisch. Oft hat sie Angst, entdeckt zu werden: sie kann keine Weihnachtslieder singen, sie lässt das Fleisch ausbluten, bevor sie es verarbeitet. Man hält den Atem an, als sie einem deutschen Offizier Essen serviert und ihr dabei ein jiddisches Wort rausrutscht.
Als der junge Bromberger aus dem KZ befreit wird, hat er nur ein Ziel: »Nie wieder hungern, nie wieder Lumpen am Leib.« Er ist schlau, er hat keine Skrupel. Um aus dem Elend herauszukommen, muss man auch mit den Mördern paktieren. Er wird viel Geld durch Tausch und Handel machen und alles wieder verlieren. Aber er lässt sich nicht unterkriegen. Seine Schwester kennt ihn gut, sie meint, er habe »anstelle eines Herzens ein Klumpen Eis.« Bromberger hatte viele Frauen, aber eigentlich blieben sie ihm gleichgültig. Auch Klara hatte er nicht aus Liebe geheiratet, es hätte genauso gut eine andere sein können. Es war der pure Zufall. Aber das Leben geht weiter. Bromberger hat durch die Geburt seines Sohnes auch seine Liebe zu Klara entdeckt. Der Versuch der Familie, nach Amerika auszuwandern, scheitert. Sie bleiben hier, Fremde im eigenen Land. Sie leben unter den Mördern ihres Volkes. Sie sehen ihre Aufgabe darin, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Buch, das an die Nieren geht. Und trotzdem fasziniert.
Sigrid Lüdke-Haertel (Foto: © Joachim Unseld)
Minka Pradelski: »Es wird wieder Tag«
Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 2020, 384 S., 24 €