Vögel kennen keine Absperrungen
Norbert Scheuers Roman über einen Sanitätssoldaten als Vogelforscher in Afghanistan
Kall, das kleine Kaff in der Eifel, wird bei Norbert Scheuer zum Zentrum der Welt. Hier lebt und schreibt er. Schreibend hat er seine Heimat in einen ganzen Kosmos verwandelt. Er hat in einem halben Dutzend Romanen jede Bodenwelle beschrieben und viele der Menschen, die dort stumm dahinleben, wo es kaum Arbeit, aber viele leerstehende Häuser gibt. Er hat das Elend und das Leiden und das bisschen Glück, das sie erleben, zur Sprache gebracht. Und er hat sich damit in die erste Reihe der neueren deutschen Literatur geschrieben (jetzt wieder auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse). Scheuer lebt in der Eifel, aber arbeitet in Köln als Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom. Das heißt: er kennt die Welt und kann mit Sprache umgehen. Sein neuer Roman »Die Sprache der Vögel« beginnt und endet in Kall, spielt aber in Afghanistan.
Paul Arimond, Sanitätsgefreiter und leidenschaftlicher Vogelforscher, wie schon sein Urgroßvater, landet am 14. April 2003 in Afghanistan. Aber schon die Landung auf dem Flughafen dieses fremden und gefährlichen Landes, bewirkt in ihm »eine tröstende Erinnerung an Zuhause«. Im braunen Staub, auf rötlichen Steinen und niedrigen Büschen begrüßen ihn Elstern. »Diese asiatische Art hier hat einen schmalen, grünlich glänzenden Flügelsaum und langes, bronzefarbenes Schwanzgefieder.«
Dass sich Paul freiwillig in diese Hölle begibt, hat einen Grund, er flieht vor einem Unglück und der Schuld, die er sich daran gibt. Er hat den Autounfall verursacht, bei dem sein bester Freund Jan einen dauerhaften Gehirnschaden davontrug. Während seine Kameraden bei ihren Einsätzen ständig mit dem Fernglas die gefährliche Gegend erkunden, um sich vor Überfällen der Taliban zu schützen, simuliert er nur Wachsamkeit. Er betrachtet die Vogelwelt. Mauersegler, Schwalben und Drosseln, Kiebitze und Kolkraben. »Sie haben zusammengehockt, spöttisch gekichert, ihre in der flimmernden Hitze glänzenden Federmäntel geputzt, ihre Schnäbel haben geblitzt wie scharf gewetzte Messer.« Bei einem anderen Vogel kräuselt die Brise »die Federspitzen seiner Flügeldecken, … er putzt sein Gefieder, indem er die Federn durch den Schnabel zieht und seine Federfahne ordnet.« Der Krieg ist »ein lauerndes Tier mit tausend Fratzen«, doch »es tröstet mich, die Vögel zu beobachten, ihnen beim Fliegen zuzusehen.«
In den letzten Jahren haben Politikwissenschaftler, Kriegsveteranen oder Journalisten viele Bücher über diesen endlosen Krieg geschrieben. Sie schrieben über die unsichtbaren Fronten, die Attentate und Überfälle, über die zerstörten Dörfer, die gesprengten Brücken, über ausgebrannte Panzer und fliehende Menschen. Sie haben das Wort »Kollateralschaden« bekannt gemacht. Scheuer, besser gesagt, sein Held, nimmt den Krieg kaum zur Kenntnis. Er beschreibt Vögel, er beschreibt mit bestechender Genauigkeit die afghanische Vogelwelt. Scheuer war nie in Afghanistan. Anlass für dieses Buch war eine flüchtige Begegnung mit einem Veteranen in einem Café in Kall. Grundlage ist das Tagebuch, das dem Erzähler (also Scheuer) angeblich von der alten Lehrerin des Sanitätssoldaten zugespielt wird.
Sein Protagonist Paul beschreibt darin lakonisch, fast distanziert, dadurch umso intensiver, sein Leben in Afghanistan. »Ich ziehe meine Splitterweste an, schultere den Rucksack … Die Sonne brennt, mein Helm rutscht auf meiner verschwitzen Stirn. Die Umgebung flimmert in fantastischen Brauntönen …, winzige Sandkörnchen, die sich auf meine Lippen und Augenbrauen legen; geblendet kneife ich die Augen zu, öffne sie kurz darauf wieder. Die Elstern sind verschwunden, für sie gibt es keine Zäune oder Absperrungen.« Diese Tagebucheintragungen werden durch Rückblenden in Pauls Kindheit unterbrochen. Die Mutter verlässt die Familie und das kümmerliche Leben in der Eifel. Der Vater, ein talentierter Hochspringer und kenntnisreich-begeisterter Vogelkundler nimmt sich das Leben. Paul verlässt seine Freundin Teresa, um nach Afghanistan zu gehen. Sie schreibt ihm einen Brief und berichtet vom Tod des Freundes Jan. Nach gut einem Jahr ist seine Mission beendet. Auf dem Weg zum Flughafen detoniert eine Bombe, vier Soldaten werden getötet, einige andere verletzt. Pauls Schicksal bleibt (etwas) offen. Durch Zufall gelangen seine Aufzeichnungen in die Hand seiner ehemaligen Lehrerin. Sie erinnert sich, dass der stille Eigenbrötler Paul schon immer am liebsten Vögel beobachtet hat. »Vielleicht«, so heißt es einmal, »kommt es im Leben nur darauf an, etwas zu finden, bei dem alles andere in Vergessenheit gerät«.