Die Suche, die verbindet
»Philomena« von Stephen Frears
Fast ihr ganzes Leben lang hat die bald 70-jährige Philomena (Judi Dench) den Kummer still in sich verschlossen, doch dann platzt es eines Tages aus ihr heraus: Fünfzig Jahre alt wäre ihr Sohn Anthony heute geworden. Er war ihr Erstgeborener, ein uneheliches Kind, das sie in einem katholischen Kloster in Irland zur Welt brachte. Die Nonnen haben ihn mit drei Jahren gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben. Wo mag er heute stecken? Wie ist es ihm ergangen? Wenigstens einmal möchte sie den Mann sehen, dessen Kinderfoto sie ein Leben lang mit sich herumgetragen hat.
Als ihre erwachsene Tochter von dem Halbbruder erfährt, setzt sie durch Vermittlung von Freunden den ehemaligen BBC-Korrespondenten Martin Sixsmith (Steve Coogan) auf die unglaubliche Geschichte an. Sixsmith, ein gerade von der Labour-Regierung geschasster Berater, will ein Buch schreiben, wie man das eben so tut, wenn man noch nicht so recht weiß, wie es weitergehen soll. Human-Interest-Stories sind ihm ein Graus, trotzdem bleibt die Geschichte über eine hilflose Mutter, ein katholisches Kloster und die ganz und gar unbarmherzigen Schwestern, die uneheliche Kinder meistbietend nach Amerika verscherbeln und ihre Mütter als billige Arbeitskräfte ausbeuten, an ihm hängen. Nicht zuletzt weil sie seine generell kritische Haltung zur Kirche befeuert.
Zögerlich nimmt er die Suche nach dem Mann auf, der vor 47 Jahren verschleppt wurde, um bald mit investigativem Furor nach den Schuldigen zu fahnden. Eher herablassend und genervt reagiert er dabei auf die alte Dame in seinem Schlepptau, die dauernd die ausufernden Geschichten ihrer Herzschmerzromane vor ihm ausbreitet und sich ständig kindisch über Kleinigkeiten freut, die in seinem weltläufigen Leben zwischen Flughafen und Luxushotel völlig alltäglich sind.
Jenseits ausgeleierter Erzählformeln entwickelt sich zwischen der liebenswürdigen, gottesfürchtigen alten Dame und dem arroganten, intellektuellen Zyniker in den mittleren Jahren ein amüsantes Buddy-Movie, unter dessen Feelgood-Oberfläche vielschichtige moralische Lebensfragen hochsteigen: Was ist der bessere Umgang mit dem Unrecht, Martins Zorn auf die Kirche oder Philomenas Fähigkeit zur Vergebung? Und was ist, wenn Philomena ihre geheimsten Gefühle und ihr privates Drama nicht in die Öffentlichkeit eines Magazinartikels zerren will? Und welches Unrecht entsteht, wenn sich Staat und Kirche in familiäre Belange einmischen, egal ob es um gefallene Mädchen in Irland geht oder um AIDS-Kranke in Amerika, denn bei dem Versuch, die Puzzleteile des Lebens zusammenzusetzen, erfährt Philomena, dass ihr Sohn schwul war.
Auf dem Stück des Weges, den Martin und Philomena gemeinsam gehen, geben sie ein wunderbares ›odd couple‹ ab, hinreißend subtil und komisch austariert von Judi Dench und Steve Coogan. Das Schicksal der wahren Philomena hat Coogan derart persönlich berührt, dass er Sixsmiths Buch »The Lost Child of Philomena Lee« zusammen mit Fernsehautor Jeff Pope adaptiert hat. Die Regie übernahm Stephen Frears, der hier seine bewährte Genrevielseitigkeit in einem einzigen Film ausspielen kann, denn Philomena ist zugleich ein Thriller um die Verbrechen der Kirche und die detektivische Suche nach einem verlorenen Sohn, eine Buddy-Komödie und ein Roadmovie, das vom irischen Land ins amerikanische Washington führt.
Ähnlich wie in »The Queen« erzählt Frears diese Geschichte in starkem Maße über die Finessen der Sprache: Da ist Sixsmiths journalistische Eloquenz und die Art, wie er sich Gefühle durch Ironie auf Distanz hält. Und auf der anderen Seite Philomenas entwaffnende Direktheit, mit der sie seine ironischen Kommentare ganz wortwörtlich nimmt und seine Sottisen immer wieder aushebelt. Und schließlich das verstockte Schweigen und die Lügen, mit denen die Klosterschwestern eine alte Schuld zu vertuschen suchen. Es ist berührend zu sehen, wie die beiden sich kaum merklich aufeinander zu bewegen und gegenseitig bereichern, wie sie weltgewandter wird und er von seinem hohen Ross herunterkommt, wie seine intellektuelle Analyse durch ihre gefühlvolle, menschliche Sichtweise gefärbt wird, und umgekehrt.