Staatstheater Darmstadt nimmt Maya Arad Yasurs »Amsterdam« wieder auf

Eine Wohnung ohne Trennwände zwischen Tür, Klo und Angel bildet den Schauplatz des Theaterstückes »Amsterdam« auf der Terrainbühne im Darmstädter Kammerspiel. Eine ins Studentische gehende Wohngemeinschaft aus drei, dann vier, bald fünf Personen würfelt sich vor uns zusammen: zu einem merkwürdigen, aber doch anspruchsvollen Spiel. Das Quintett konstruiert aus der simplen Information, dass eine in Amsterdam wohnende Frau einen Brief vorfindet, den ihr jemand unter der Tür hindurch zugeschoben hat, eine Geschichte, und treibt sie in vielen aberwitzigen Anläufen immer weiter und tiefer. Vom Briefträger kann er nicht sein, die laufen keine Treppen in Amsterdam, also muss es jemand aus dem Haus in der Keizergracht selbst sein. Und hat es nicht geklopft? Als allmählich durchsickert, dass dieser Brief eine über 70 Jahre alte Gasrechnung aus dem Jahr 1944 enthält und inklusive der aufgeladenen Mahngebühren 1.700 Euro einfordert, detonieren die Assoziationen in unserer Fünfer-WG. Sie lässt ihre namenlos bleibende Protagonistin, eine – israelische Geigerin im neunten Monat – eine Fährte aufnehmen, die zurück in die Zeit der deutschen Besatzung in Holland blickt – wer dächte da nicht sofort an Anne Frank und ihre Familie.
Es ist ein dickes, dichtes Knäuel aus Erzählfäden, das es hier kriminalistisch zu entwirren gilt. Und auch ein politisch delikates. Die israelische Autorin Maya Arad Yasur hat diese Fäden gesponnen und die Regisseurin Julia Prechsl fesselt uns mit ihnen durch das intensive, oft aber auch exaltierte knapp zweistündige Spiel des aus Naffie Janha, Anabel Möbius, Béla Milan Uhrlau, Mariann Yar und dem Tänzer Chris-Pascal Englund-Braun bestehenden Ensembles. Yasurs mehrfach preisgekröntes Stück lässt uns auch teilhaben an einem von durchgängiger Verunsicherung gezeichneten Leben in der Stadt, wenn sich die junge Frau in der Supermarktschlange willkürlich in die Köpfe derer denkt, die vor ihr, hinter ihr stehen oder an der Kasse sitzen. »Sie denkt, er denkt, dass sie …« eine Muslima ist, ihn Steuern kostet, den Platz in der Schlange abnimmt, heißt es einmal. Absender des Briefs sind die Amsterdamer Stadtwerke, die ursprüngliche Adressatin eine israelische Vormieterin, die wahrscheinlich das Schicksal von 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung Hollands unter den Nazis hat teilen müssen. Auch dieser, Ingrid van Heughten, hat Yasurs WG eine Geschichte und Identität kreiert, die das den Stolz auf den ersten nichtjüdischen Widerstand gegen die Nazis bezeugende Zitat im Stadtwappen Amsterdams mit dem, was auf Holländisch »Ambtenaar Mentaliteit« (Beamtenmentalität) genannt wird, konfrontiert – und bis ins Heute reicht. Wenn die Musikerin über die Grachten läuft, hört sie mit dem Hall ihrer eigenen Absätze nun auch die geisterhaften von Otto Frank, von Herman Brood, der sich hier umbrachte, von Spinoza, den die jüdische Gemeinde mit einem Bannfluch belegt hat, oder des SS-Oberscharführers Karl Silbergaul, der die Wohnung in der Prinsengracht 263 stürmte.
Ein Spiel, das verwirrt, mitreißt, manchmal auch nervt, das amüsiert und mit einer Offenheit frappiert, die sich jede Menge politischer Unkorrektheiten erlaubt. Etwa, wenn sich die WG bei jeder Anspielung auf den Holocaust eine rituelle Schweigepause verordnet oder sich über die Höhe der Gasrechnung mokierend fragt, ob sie denn wohl ein Volk habe auslöschen wollen. Etwas weniger Action wäre vielleicht noch mehr gewesen, denkt man am Ende über einen Abend, an dem bei weitem genug gegeben wird, um ihn dringend zu empfehlen. Jede Aufführung ist eine Chance.

Winnie Geipert / Foto: © Martin Sigmund
Termine: 27. November, 18 Uhr
www.staatstheater-darmstadt.de

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