Staatstheater Wiesbaden: Das Hessische Staatsballett tanzt »Kaspar Hauser«

Fremd zieht es ihn hinaus

Nach »Aschenputtel« ist »Kaspar Hauser« das zweite Handlungsballett, das der Direktor des Hessischen Staatsballetts und Choreograf Tim Plegge mit seinem Ensemble auf die Bühne bringt. Sein Thema: die Geschichte um den Findling Kaspar Hauser, der am 26. Mai 1828 in Nürnberg nahezu sprachlos und verwildert auftauchte – ein Mann ohne Vergangenheit und Identität. »Kaspar, wer bist du?« heißt es in großen Lettern gleich zu Anfang.
Befreit aus fast zehnjähriger Gefangenschaft, ohne elterliche Zuwendung und soziale Kontakte, wird der junge Mann erneut Opfer und Spielball der gesellschaftlichen Verhältnisse. Über Lautsprecher eingesprochene Tagebuchtexte des historischen Kaspar Hauser berühren und ergänzen anschaulich, was Plegge in 17 Episoden zusammengetragen und choreografiert hat.
Da ist einmal Kaspar Hauser selbst. Virtuos getanzt von Tyler Schnese, der nicht nur gekonnt die ersten Gehversuche des Findlings in Tanz übersetzt, sondern uns in drei Soli an Kaspars Entwicklung und letztlich Verzweiflung teilhaben lässt. Es ist nicht immer ganz leicht, mit einem trainierten Tänzerkörper eine Bewegungssprache für jemand zu finden, der zehn Jahre lang nur gesessen hatte und jetzt erst das Laufen lernt. Doch muss man das Ergebnis als überaus gelungen bezeichnen. Wie überhaupt eine Qualität Plegges darin liegt, Figuren und Gruppen variantenreich in Bewegungen und Bewegungssprache zu typisieren. Am Ende, wenn Kaspar im Sterben liegt, ziehen noch einmal alle an ihm vorbei, die ihm zeitlebens Schmerz bereiteten – die Wissenschaftler, die Bürger, die Schüler und die feine Gesellschaft.
Fremd ist er in die Welt gekommen, fremd zieht es ihn wieder hinaus. Nicht zufällig ist auch ein Lied aus der Winterreise in der Vertonung von Schubert in die Klangcollage von Daniel Lett eingearbeitet, die Musik unter anderem von Philip Glass, Dimitri Schostakowitsch, Bela Bartók und Bernard Herrmann (aus den Filmen »Citizen Kane« und »Psycho«) verwendet, um getanzte Gefühle von Angst, Einsamkeit, Falschheit, Fröhlichkeit und Unheil wirkungsvoll zu unterstreichen. Zwei große, bewegliche Holzwände auf der Drehbühne von Sebastian Hannack ermöglichen rasche Wechsel in unterschiedliche Räume. Übergroß wird ein Ausschnitt aus Rembrandts Gemälde »Die Anatomie des Dr. Tulp« gezeigt, auf dem ältere Männer mit Doktorhüten eine männliche Leiche wissenschaftlich observieren.
»Kaspar Hauser« ist ein künstlerisch ansprechendes, gut strukturiertes und verstehbares Handlungsballett mit großartigen Tänzern. Neben der Hauptfigur agieren noch seine drei Echos (Guido Badalamenti, Vítek Korínek und Tatsuki Takada), die Kaspar beistehen und all das ausdrücken, was für ihn noch nicht möglich ist. Lord Stanhope (David Cahier) ist Kaspars Gönner und auch Verführer, der sich aalglatt in der Gesellschaft bewegt und vehement die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Kaspar und Lina von Stichenbach (Seraphine Detscher) zu unterbinden weiß. Er sieht in Kaspar eine leichte Beute – auch für seine homoerotischen Ambitionen. Auf dem kurzen Weg durch eine ihm fremde Welt ist nur das Ehepaar Daumer (Miyuki Shimizu, Igli Mezini) dem Findling von Herzen zugetan.

Walter H. Krämer (Foto: © Jutta Stöß)
Termine: 1., 6., 10.,13., 16. April, jeweils 19.30 Uhr
www.hessisches-staatsballett.de

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