Stephan Thome: »Gegenspiel«

Aus ihrer Sicht

Stephan Thome beschreibt jetzt das »Gegenspiel« zu seinem vorherigen Roman »Fliehkräfte«

Der Autor stammt aus Biedenkopf in Nordhessen. In Taiwan hat er an einer Universität Philosophie gelehrt und, nebenbei, seinen ersten sehr erfolgreichen, später auch verfilmten Roman »Grenzgang« geschrieben. Nach Deutschland zurückgekehrt, schrieb er seinen zweiten Roman, »Fliehkräfte«, über das Zerbröckeln einer Ehe, aus der Sicht des Mannes gesehen. Beide Bücher hatten es auf die Short-List zum Deutschen Buchpreis geschafft. Jetzt erzählt er im »Gegenspiel« die gleiche Geschichte wieder, nur aus der Sicht der Frau.

Hartmut Hainbach, Ende fünfzig, Professor für Philosophie in Bonn, holt seine Frau Maria am Bahnhof ab. Seit einem Jahr arbeitet sie in Berlin als Assistentin bei einem cholerisch-egomanen Theaterregisseur. Das getrennte Leben ist schwierig für das Ehepaar. Aber Maria hatte es so gewollt. Zwanzig Jahre mit Kind und ohne Job, erst auf dem Land, dann in Bonn, waren für sie lähmend und unerträglich. Als die Tochter Philippa, für die sie  immer »bevorzugte Zielscheibe für Zornesausbrüche« war, aus dem Haus geht, sieht sie endlich die Zeit gekommen, sich zu emanzipieren und selbst zu verwirklichen. Als junge Studentin war sie einst aus Portugal nach Berlin gekommen, immer von dem Gefühl getrieben, »alles zu verpassen«. Bald wird sie Geliebte und Muse des damals schon hochkomplizierten und anpassungsunwilligen Theaterregisseurs Falk Merlinger. Der bietet ihr zwanzig Jahre später wieder einen Job an, als Assistentin. Maria hat es mit sich selbst nicht leicht, ihre Wünsche und Bedürfnisse sind widersprüchlich. Sie möchte etwas machen, weiß aber nicht so recht, was. Als sie in Berlin Hartmut kennenlernte, wurde sie sofort schwanger und obwohl sie sich kaum kannten, heirateten sie. Thome-Leser kennen das Paar natürlich aus dem Buch »Fliehkräfte«, allerdings aus Hartmuts Perspektive. Wir kennen seine Schwierigkeiten an der Uni und wissen, wie schwer er sich mit Marias Umzug nach Berlin tut. Er sieht keinen Sinn mehr darin, meist allein in einem viel zu großen Haus zu leben. »Gegenspiel« erzählt wieder die gleiche Geschichte, und doch völlig anders, diesmal nämlich aus der Sicht von Maria. Thome ist ein Meister im Beobachten und genauen Beschreiben des Gefühlslebens von deutschen Mittelstandsehen und Kleinfamilien. Auch im akademischen Betrieb kennt er sich aus. Maria kann mit dem neugeborenen Baby nichts anfangen, sie verfällt in eine wochenlange Depression. »Auch das ist ein Thema ihres Lebens: weglaufen zu wollen; voller Entschlossenheit loszulaufen; dann zu spüren, dass die Kraft nicht reicht.« Die Geschichte ist verfahren. »Gemeinsame Lebenslügen sind komplizierte Gebilde, aber das zugrunde liegende Prinzip ist simpel: Einer will nicht hören, was der andere sich nicht zu sagen traut.« Als Maria mit ihrem Regisseur und seiner Schauspieltruppe zu einen Gastspiel nach Kopenhagen fährt, ist Hartmut tagelang nicht zu erreichen. Er hatte sich, ohne ihr etwas davon zu sagen, auf den Weg nach Portugal gemacht, um dort, bei den Schwiegereltern, seine Tochter zu treffen. Maria ist alarmiert, es scheint wirklich ernst zu sein, vielleicht ist ihre Ehe tatsächlich in Gefahr. Sie reist ihm nach, sie treffen sich in einem kleinen Ort am Meer, kommen sich aber kaum näher.
 »Wir können nicht zurück zu unserem Leben vor Deinem Umzug.« »Und warum  nicht?« »Weil wir entweder zu viel wissen oder immer noch zu wenig.« Hartmut zieht sich aus, legt die Sachen in den Sand und schwimmt ins offene Meer hinaus. Mit dieser Szene endeten auch schon die »Fliehkräfte«. Wahrlich, ein offenes Ende. In zwei, drei Jahren wissen wir vielleicht etwas Genaueres.

Sigrid Lüdke-Haertel
Stephan Thome: »Gegenspiel«. Roman.
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2015, 458 S., 22,95 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert