von Winnie Geipert
Annäherung an das Undenkbare
Theaterhaus Frankfurt: Stein auf Stein
Er brauche dringend einen Hut: Er müsse seinen Kopf schützen gegen alles, was er sich hier vorstellen soll. Der plötzliche Gefühlsausbruch des feinfühligen Erzählers, den Günther Henne vom Theaterhaus-Ensemble im Keller der Schützenstraße 12 zusammen mit Michael Meyer gibt, irritiert die lauschenden Schüler nur kurz. Sie haben schon einen kleinen Parcours auf dem nahen Börneplatz hinter sich, der sie ein wenig einfühlen ließ, was es vor 70 Jahren unter den Nazis bedeutete, ein Jude in Frankfurt, in Deutschland zu sein. Vor allem aber: ein jüdisches Kind. Und sie haben vom Brand der Synagoge erfahren, von den Steinen gegen das Vergessen und davon, daß der Platz mit lautem, spitzem Splitt überzogen ist wie die Höfe in den Konzentrationslagern.
Im Kellercafé der Spielstätte, 1894 als Haus der jüdischen Gemeinde errichtet, wird Matze probiert, salzloses Brot, schließlich gab es hier einmal eine jüdische Bäckerei und sogar eine kleine Zigarettenmanufaktur. Etwa 20 Menschen jüdischen Glauben wohnten hier noch zu Beginn des Naziterrors, auch Ella und Eva Zeissler, die bei Kriegsbeginn knapp 10 und 14 Jahre alt waren und von denen »Stein auf Stein« handelt. Sie müssen hier eine ganze Zeit lang allein gewesen sein, nachdem ihr Vater, ein Händler, von einer Reise nicht zurückkehrte und verschwunden war.
Bouke Oldenhof, die Autorin, und Regisseurin Silvia Annika haben sich vorgestellt, wie das war, als Eva und Ella (Mirjam Tertilt, Susanne Schyns), auf den Papa gewartet haben. Wie sie spielten, lernten, den Haushalt machten, über was sie sprachen, wie sie sich stritten und wieder versöhnten. Sicherlich hat der Vater den Töchtern verboten, ohne ihn die Wohnung zu verlassen und für alle Fälle Vorräte angelegt. Und gewiß mußte Ella ihre kleine Schwester oft trösten bis zu ihrer Entdeckung. Auf den Täfelchen, die für sie in die Friedhofsmauer eingelassen sind, folgt dem Geburtsdatum nur ein langer leerer Strich. »Stein auf Stein« ist eine wunderbare Inszenierung, die keinesfalls den Kindern und Jugendlichen allein überlassen werden sollte.
Termine: 4. November 15 Uhr, 5., 6., 7., 8., 9. November 10 Uhr , 9. November 18 Uhr
Tugend und Tatoos
Hessisches Staatstheater Wiesbaden: Miss Sara Sampson
Endverliebt in den berüchtigten Adelssproß Mellefont, aber ohne den Segen des Vaters. Da bleibt der tugendhaften Halbwaisen Sara nur eins. Nix wie weg und heiraten in Frankreich. Komisch, daß das Bürgerkind nicht argwöhnisch wird, als der vermeintliche Märchenprinz plötzlich vorgibt, nur noch flugs das Erbe klären zu müssen– und dafür Monate braucht. Neun Wochen wartet das Naivchen im schäbigen Küstenhotel auf das Go: unwissend, daß sich längst die Mellefont-Ex Marwood samt Mellefont-Kind Arabella und selbst Papa Samson zum Showdown eingebucht haben.
Bedingungslose Liebe, tödliche Eifersucht und ein uneheliches Kind. Mit seinem Trauerspiel »Miss Sara Sampson« hat Gotthold Ephraim Lessing vor 350 Jahren die Leute zu Tränen gerührt. Im Staatstheater Wiesbaden inszeniert Ricarda Beilharz das Rührstück leicht und locker als tragikomische Komödie mit großem Verzauberungspotential. So eine unaufdringlich und poetisch eingesetzte Videotechnik hat der Chronist noch nie gesehen.
Stilisiert wie Marionetten harren die Figuren in einem dreistöckigen Setzkastenpuppenhotel der Dinge. Oben im Bad säuselt Sara (Sybille Weiser) im Brautschleier Liebesgedichte, unter ihr wechselt Mellefont (Stefan Schießleder) stetig die Hemden. Papa Sampson schreibt beim Fußbad Briefe an die Tochter und ein Diener, der wie ein Albino-Winnetou aussieht, hangelt mit einer Bettlakenliane zwischen den Stockwerken. Daß die Figuren weniger miteinander als ins Publikum reden, nimmt ihnen den Ernst, legt aber auch offen, wie wenig sie einander erreichen.
Rothaarig und tief tätowiert bringt erst die gekränkte Marwood Dynamik ins Spiel. Sie verführt, erpreßt und intrigiert nach allen Regeln der Beutekunst und setzt sogar die eigene Tochter als Geisel ein, wiewohl deren Kammerexistenz etwas nach Fritzl schmeckt. Doreen Nixdorf aber gibt eine so starke Frau, daß sich der Medeagestählte nicht nach ihrer Mordlust, sondern danach fragt, was der Flattermann Mellefont mit dem irrlichternden Püppi eigentlich wollte. Marwood rules – In einem stimmigen Ensemble an einem zu Recht umjubelten Abend.
Termine: 8., 18. November, jeweils 19.30 Uhr
Unter Trotteln
Staatstheater Darmstadt: Johanna von Orleans
Man denkt an die holde Iphigenie, wenn der eiserne Vorhang sich hebt und Schillers Heroine allein auf weiter Flur im schlichten Grau des Hirtenmädchens zum Monolog anhebt: »Lebt wohl ihr Berge …« Doch von einer Frau, die ihr Heil mit der Seele sucht, ist in Ronja Loserts Spiel wenig zu spüren. Das neue Mitglied des Darmstädter Ensembles gibt eine Johanna von Orleans, die sich nicht ohne Gefühl, aber frei von Pathos daran macht, einen Job zu erledigen. Cool halt.
Daß es ein schmutziger Job wird, darauf weist wohl die große Mündung eines Abflußrohrs, die das Bühnenbild dominiert und in deren Schlund die Nebel wabern. Das Teil stößt aus einer Schräge, auf deren oberen Ebene der dekadente Hof von Karl VII residiert, während unten Ende rund um ein Wasserbecken die Schlachten des 100-jährigen Kriegs geschlagen werden. Lydia Bunks eigenwillige Inszenierung denunziert die kriegerische Männerwelt mit einer Hingabe, die immer wieder für schräge, manchmal aber auch schiefe Situationen sorgt.
Nicht nur, daß der König mit leichten Mädels schwer Champagner schlürft, während sein Land zugrundegeht, er wird auch von nicht enden wollenden Heulkrämpfen heimgesucht, weil ihn Mama Isabeau – als Maggie Thatcher (warum?) ganz prima: Margit Schulte-Tigges – nicht mag, und gebärdet sich nach Johannas Wunderwende als bloßer Poser. Über tumbe ungewaschene Egomanen mit fettverzottelten Mähnen kommen auch die Edelleute aller Lager nicht hinaus, deren Ledermonturen an pensionierte Spätrocker denken läßt. Alles Trottel, versteht sich.
Johanna aber zieht ihren Business-Plan zur Rettung Frankreichs durch und nimmt dabei den demaskierten Intrigensumpf derart gelassen in Kauf, dass man auch als Nichtchrist an der Vorsehung zweifelt. Mag sein, dass Bunk sie deshalb – anders als in Schillers romantischer Tragödie, aber der Geschichte folgend – mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft.
Termine: 3., 9., 16., 22., 28. November jeweils 19.30 Uhr
Death Metal für den Scharfkunstrichter
Freies Schauspiel Ensemble: Der Menschenfeind
So einen wie den Maler Alceste, radikal ehrlich und kompromißlos der Wahrheit verpflichtet, braucht wahrscheinlich niemand. Moliére hat den asozialen Typus des Lebenspuristen in eine Pariser Künstlergesellschaft versetzt, in deren Ränken sich der Streiter der Rechtschaffenheit denn auch bald juristisch verfängt. Daß er sich überhaupt mit diesem Karrieristenpack abgibt, hat einen triftigen Grund. Alceste ist bis zur Blind- und Blödheit Celimène, der Favoritin der Kulturblase, verfallen, und kriegt gar nicht mit, wie diese ihn nebst ihren anderen Verehrern vorführt.
Das Freie Schauspiel Ensemble spielt diesen ewig jungen Konflikt um das richtige Leben im falschen in der kongenial modernen Reimfassung Hans-Magnus Enzensbergers aus dem Jahr 1979 mit drei Schauspielern. Schauplatz ist das Atelier des Malers, in dessen benachbarten Räumen Célimène eine Party steigen läßt. Dabei gelingt dem bulldoggig agierenden Axel Gottschick ein Scharfkunstrichter Alceste, der sich mit nervenzerfetzendem Death Metal abreagiert, um emphatische Gefühle für seine Figur gar nicht erst aufkommen zu lassen. Bettina Kaminski und Jürgen Beck-Rebholz geben seine Sei-doch-vernünftig-Freunde Eliante und Philinte, schlüpfen aber auch in fast alle anderen Rollen, deren Auftritte Regisseur Reinhardt Hinzpeter gewitzt als Schauspiel im Schauspiel inszeniert.
Der kleine Kniff erlaubt es dem Ensemble, die Schicki-Micki-Mischpoke problemlos zu überzeichnen und so eine mitreißende Groteske zu veranstalten, für die man freilich hellwach sein sollte – so schnell wechseln manchmal die Charaktere. Wenn Eliante, das It-Girl Célimène nachahmend, aufreizend im Fummel über den Farbtöpfen auf dem Malertisch tanzt, oder Philinte, die eifersüchtige Giftnudel Arsinoe imitierend, auf allen Vieren winselt, dann schäumt und schwappt es auch mal über im Titania. Manche mögen’s feucht.
Termine: 18., 25. November jeweils 17 Uhr