Mit dem Therapeuten ins Puff
»Superhero«: In Wiesbaden wird die Geschichte um die letzten Tage des krebskranken Donald als großes Musical und in Mainz als intimes Kammerspiel aufgeführt
Das Leben ist eine Geschlechtskrankheit, die durch Sex verbreitet wird und an der man am Ende stirbt. Sex, Sex, Sex – an was sonst sollte ein 14-Jähriger bitte denken? Jeder zweite seiner Gedanken sei nicht jugendfrei, harscht der Schüler Donald Delpe, die Hauptfigur in Anthony McCartens 2006 erschienenem Roman »The Death of a Superhero«, den von seinen Eltern bestellten Therapeuten Adrían King an, als ließe sich ein Seelenklempner ausgerechnet damit schrecken. Der Analytiker soll den an Krebs erkrankten Jungen betreuen, der schon einige Chemos hinter sich hat und düstere Comics vom unsterblichen ›Miracolous-Man‹ als Alter Ego zeichnet. Dons größter Kummer freilich ist, dass er abtreten könnte, ohne jemals mit einem Mädchen gevögelt zu haben. Ja, nicht einmal einen nackten Frauenbusen habe er bisher gesehen, gesteht er King, der nun ganz gegen die Regeln seiner Zunft, dafür sorgt, dass sich das ändert. Er hat kapiert, dass es Donald um Anerkennung und um Nähe geht. Und um die Frage, ab wann es sich lohnt, gelebt zu haben.
Das herzanrührende Melodram ist an den Staatstheatern in Mainz und Wiesbaden in extrem unterschiedliche Bühnenfassungen im Programm, an denen der Autor selbst mitgearbeitet hat. Das Junge Staatstheater (Just) der hessischen Landeshauptstadt präsentiert es mit mehr als 30 Personen auf der Bühne als aufwendiges Musical und Welturaufführung, während Just Mainz seinen »Superhero« im Studio U17 mit vier Darstellern als intensives Kammerspiel bestreitet. Hier, in der Kellerspielstätte, lässt Regisseur Markolf Naujok die Handlung um einen dunklen garagenartigen Bau kreisen, der – von einem Klavier und einem Schreibtisch flankiert – im Handumdrehen vom Heim zum Jahrmarkt, vom Kranken- zum Freudenhaus mutiert und als Projektionsfläche für die eingeblendeten Comic-Phantasien dient. Victor Doddema wirft sich mit Verve in die Gefühlsachterbahn dieses trotzigen, rotzigen und zutiefst verunsicherten Pubertären und lässt, weil er diesen ernst nimmt, sein Alter schnell zur Nebensache werden. Mainz präsentiert ein Spiel, das nie in Gefahr läuft, kitschig zu werden und nahegeht. Auch weil Antonia Labs, Rüdiger Hauffe und Klaus Köhler, die alle anderen Rollen spielen, ihren Kollegen prächtig unterstützen. Zum Schreien, wie Labs, eine der auffälligsten Figuren des Mainzer Neustarts, ihre Shelly es einfach nur »cool« finden lässt, wenn Don die Mütze abnimmt und wie ein wandelndes Kondom aussieht. Und gesungen wird, etwa Chris Isaacs »Wicked Games«, auch.
In Wiesbaden veranstaltet Regisseurin Iris Limbarth mit den Mitgliedern ihres Jungen Staatsmusicals eine Megaschau auf der großen Bühne des Kleinen Hauses und kann dabei auf technische Effekte, auf mitreißende jazzige Tanzchoreografien und den perfekten Sound einer starken Liveband (Leitung: Franz Bangert) bauen, die ihre singenden Protagonisten sicher über die mal melodisch gleitenden, mal aufgewühlten Wogen (Musik: Paul Graham Brown) trägt: Wie in Leonard Bernsteins »West Side Story« fühlt man sich manchmal. Bright Lights, Big City, in der schattig-stählernen Hochhauskulisse mit einer mächtigen Zugbrücke im Zentrum ist nicht nur Donald zuhause, der sich hier in den Tod zu stürzen droht, sondern auch seine Schöpfung, der Miracolous-Man, dessen Abenteuer mit Doktor Schmuddelfinger viel Raum einnehmen. Wunderbare Einfälle, wie der Besuch des Zeichenkurses mit dem berückend schönen Aktmodell (Leonie Just) oder der an »Harry & Sally« erinnernde Orgasmus aus dem Off des Freudenhauses lockern die Geschichte auf, deren schauspielerischer Höhepunkt vielleicht die Begegnung Donalds mit dem Vater liefert. Die Talente aus der Wiesbadener Musical-Schmiede werden abwechselnd eingesetzt. In der hier besprochenen Aufführung fielen neben David Rothe als Donald, Denia Gilberg als Shelly und Nils Klitsch als Bruder Jeffe auf. Die erste Preise hat das Musical schon eingeheimst.