Tanzmainz: Meisterliche Choreografien aus Portugal beim Doppelabend »Força«

Es ist ein Vulkan, es könnte aber auch die Pforte zur Hölle sein, die sich da nach der Pause unter einem dickwattierten Wolkenhimmel auf Bertil Brakemeiers Bühne im Großen Haus des Staatstheaters Mainz auftut und sofort einen veritablen Engel verschlingt. Aus dem brodelnden Feuerschlund spuckt es Müll – oder sind es die ausgespieenen Klamotten des Gefiederten? – und dann einen Pack unter feurigen Rhythmen zuckender roter Leiber, wie gehäutet ausschauende Menschen mit freigelegten Muskel- und Sehnensträngen (Kostüme: Lucia Vonrhein). »Forró« heißt der energetische Tanz (Musik: Mestre André), der das in permanent wechselnden Formationen forcierte Treiben befeuert und auch im Publikum niemanden in Ruhe lässt. Ist das noch Moderner Tanz? Auf jeden Fall ein mitreißender brasilianischer Karneval.
Dass es dabei nicht bleiben kann, liegt auf der Hand und ist nur in der Ausführung überraschend. »Pink Fraud«, rosa Schwindel, titelt der Beitrag des portugiesischen Choreografen Lander Patrick zum Doppelabend »Força« bei tanzmainz, den er zu nicht ganz gleichen Teilen mit seiner ehemaligen Lehrerin Tanja Carvalho bestreitet. Gerecht aufgeteilt haben die beiden sich aber das 22-köpfige Ensemble des Hauses.
Aufgedeckt oder ausgeheckt (?) wird der rosa Schwindel von einem Mann in einer mit leuchtenden Smartphones behängten Jacke, der röhrend Gehorsam heischend dem Vulkan entsteigt. Ein theatraler Sprung in die Moderne, der übrigens nur 17 Meter tiefer im Haus dieselbe phonetische Grundierung findet: Wie dort in »Jupiter brüllt« auf der U17-Bühne (s. S. 20) verweist die Richard-Strauß-Fanfare »Also sprach Zarathustra« im Schulterschluss mit dem Donauwalzer (Johann Strauß jr.) auf Stanley Kubricks »2001«. In eine Zukunft, die hier unschwer als grassierende Idiotisierung im Selfietaumel zum tänzerischen Ausdruck kommt. Und auf das Publikum übergreift! Wie? Dreimal dürfen Sie raten.
Tanja Carvalhos 50-minütiger Choreografie »Mysterious Heart« siedelt auf einem anderen Kontinent und schwelgt in rauschhaften Gefühlswelten. Nebel und Licht, mehr hat es erstmal nicht auf der Bühne. Dann setzen Trommeln ein und eine in den Raum tretende Tänzerin, es ist Amber Pansters, erstarrt für ein paar Sekunden zur Statue oder zum Standstill. Andere folgen. Von der bald ins Sphärisch-metallene umschlagenden Musik von Diogo Alvim getrieben, sammeln sich in gelben und grünen Rüschen-Kostümen die Tänzer*innen, um in immer neuen Anläufen tableaux vivants zu bilden, mal mit Schreien von Angst gepackt, mal jauchzend innig vereint. Sie stürzen solo, zu zweit, in Gruppen, auf Spitzen und in weiten, hohen Sprüngen heran. Auffällig sind die mit spitzen Metallhäubchen verlängerten Finger der Akteure. Ein Menuett, eine Singstimme (von Tanja Carvalho) klingt auf, um jäh unterbrochen zu werden. Maschinengewehrsalven dringen dumpf aus dem Nebel. Dann schauerliche gesichtslose Gestalten mit hüftlangen weißen Mähnen, die eine zarte Seele verfolgen: Gothic in fahlem Grün. Stimmungswechsel ohne Ende auf der Klaviatur der Gefühle. Lustig ist hier nichts, betörend aber alles.

Gisbert Gotthardt / Foto: © Andreas Etter
Termine: 30. März, 19.30 Uhr; 7., April, 15 Uhr; 8. April, 19.30 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

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