Das neue Buch des Frankfurter Schriftstellers Ulf Erdmann Ziegler »Schottland und andere Erzählungen« ist, kurz gesagt, ein starkes Stück: Erfahrungsgesättigt, pointiert, bilderreich. Man sieht vor sich, was er beschreibt. Die meisten dieser Geschichten sind kurz und enthalten doch oft eine ganze Welt. Er hält sich an die Realität. Was er beschreibt, das ‚stimmt’. Dabei produziert er mit seinem Röntgenblick eine andere, neue Wirklichkeit. Und, beim Leser, Gefühle.
Eine schlichte Geschichte. Ein Mann verlässt seine Familie. Die Frau hält alleine durch, bis die beiden Töchter aus dem Haus sind. Dann zieht sie sich zurück aufs Land, in einen kleinen Ort bei Hamburg, den man noch »nicht einmal googeln kann«. Die eine Tochter, Mitte Dreißig, alleinstehend, besucht regelmäßig die alte, mittlerweile krebskranke Frau. Die macht’s nicht mehr lange, sorgt vor, hat einen Container bestellt. »Es ist besser, wenn ihr mit alldem nicht belastet seid.« Die Mutter stirbt. Die Tochter lässt sich in einer Bar volllaufen. Dem vor der Bar wartenden Taxifahrer sagt sie: »Ich bin total betrunken – brauche kein Taxi«. Der Fahrer kapiert. Sie fahren zu ihr, er gibt ihr Halt. Später wird sie sagen: »Es war Sven, der mich gerettet hat«.
Solche Nacherzählungen banalisieren ein komplexes Geschehen. Ziegler arbeitet genau, oft mit extremen Verkürzungen. Was klar ist, muss nicht breitgetreten werden. Diese Technik gibt seinen Erzählungen zusätzliche Dichte.
Ein Haus an der ligurischen Küste. Alte Freunde treffen sich dort, tauschen Erinnerungen aus, und machen nebenbei deutlich, wie weit sich alle voneinander entfernt haben, die Freunde, die bald wieder weiterziehen. Auch die Gastgeber selbst. Geeske, die Frau, geprägt von der »holsteinischen Rhetorik«: dem »Schweigen«. Er, süddeutsch gesprächiger, hat sich ein Motorrad gekauft. Als sie mit Obst aus dem Garten kommt, sagt er: »Schön«. Was immer er damit meint, die »Gartenfrüchte oder das Zweirad, alles auf der Liste der Dinge, der liebsten. ’Ja’, sollte sie sagen, mindestens. Aber sie sagt es nicht. Ihre Augen treffen seine, und es kann sein, dass ihm entgeht, was sie vor sich sieht«.
Diese scheinbar vage Vermutung beschreibt präzise, wie es genauer kaum geht, die Entfremdung der beiden. Wie gesagt: drei Seiten – ein ganzes Leben.
Eine andere Geschichte. Zwei Leben, zwei Schicksale auf zwölf Seiten gebracht. »Wir«, beginnt diese Geschichte, »hatten nichts gegen Heidelberg«. Aber Soziologie war dann doch nicht ihr Ding. Sie gehen nach Mannheim, satteln auf Betriebswirtschaft um, verachten ihre Studienkollegen. »Buben mit speckigen Brillen, die letzten Pickel der Pubertät überholt vom Haarausfall«, die dreckige Wäsche im Gepäck, »am Wochenende nach Hause zu Mutti«. Unser Pärchen will keine kleine Karriere machen; sie suchen Bodenhaftung. Sie werden Vertreter, sie für, tatsächlich, »Traktoren«. Er reist für einen Sägenhersteller. Irgendwann trennen sie sich. Heiraten, bekommen Kinder. Nach vielen Jahren begegnen sie sich zufällig wieder.
Nicht nur die einzelnen Geschichten sind genau kalkuliert, auch der Band als Ganzes. Genau in der Mitte des Buches finden sich zwei in sich abgeschlossene Erzählungen, die aufeinander bezogen sind. Zwei Brüder, die wenig miteinander zu tun haben, getrennte Wege gehen und am Ende doch zueinander finden.
Das mag banal klingen. Aber Zieglers Geschichten sind prall voller Leben, in allen Details. Es sind eigentlich kondensierte Romane, die sich, quasi automatisch, im Kopf des Lesers entfalten.
Zieglers genauer Blick führt oft zwangsläufig zur Pointe. Seine Komik kann boshaft werden; seine Phantasie ist oft skurril.
Ein schmales Buch, von kaum zweihundert Seiten. Und doch ein genaues Porträt unserer gegenwärtigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Kurzum: ein starkes Stück.