Ulrich Greiner hat seine Lebensgeschichte alphabetisch sortiert

Vom Ort des guten Schreibens

Schicksal. Ulrich Greiner ist in Bornheim aufgewachsen, hat sich am Gagern-Gymnasium  eine solide Grundlage humanistischer Bildung abgeholt, muss aber in jedem offiziellen Dokument den schmachvollen Eintrag akzeptieren: Geburtsort: Offenbach. Pech? Wer weiß. Denn trotzdem – oder deshalb: aus dem Bub ist was geworden! Langjähriger Feuilletonchef der Hamburger ZEIT, Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg, einer unserer renommiertesten Literaturkritiker und, mit über siebzig, immer noch Herausgeber der Literaturbeilage seiner ZEIT.  
Der Autor, ein siebzigjähriger Mann, sieht, »dass sich rechts und links von ihm die Reihen lichten, während die Wohnung, in der er seit vielen Jahren lebte, immer voller wurde.« Deshalb beschloss er »bevor alles verblassen würde, das Schiff der Erinnerung zu besteigen und zurückzureisen in die vergessenen Jahre.« Er macht die Reise aber nicht an Jahren, sondern an Dingen fest. Der »alphabetische Roman« beginnt bei A wie Alpha Clack, einem seiner ersten Fotoapparate, und er endet mit Z wie Zimmer. Unter B wie Brille erfahren wir von der Sehschwäche eines Auges, die schon das kleine Kind zum Brillenträger macht. Die Brille bestimmt seine Entwicklung, sie prägt seinen Charakter. Er konnte sich »nie an den Prügeleien, die unter Jungen meines Alters üblich waren«,  beteiligen. So findet er bald zum Buch. Das Buch erlaubt es ihm, »der unerfreulichen Gegenwart zu entrinnen und Zuflucht zu fremden Welten zu suchen.« Seine Leseerlebnisse führen schließlich dazu, dass er Literatur studiert und, im direkten Anschluss, Redakteur bei der FAZ wird.
Er entwickelt eine hohe Sensibilität und ein gutes Beobachtungsvermögen, Eigenschaften, die er – nicht immer zum Vorteil – auf sich selbst, aber ebenso auf andere anzuwenden versteht.
Hände und Händedruck sind für ihn etwas ganz Wichtiges. Regelrecht »angewidert« war er bei Schirrmacher von der »Schlaffheit seiner kleinen, irgendwie formlosen Hände.« Sein Händedruck war nur ein »matter Anschmeichlungsversuch«. Sein Urteil ist überhaupt sehr genau, kritisch auch sich selbst gegenüber. Bestechend seine klare, stilistisch perfekte Sprache, die manchmal etwas sympathisch Altmodisches hat.
Unter »Feuilleton« und »Presse« beschreibt er seine Zeit als Redakteur und, von 1986 bis 1995, als Feuilletonchef der ZEIT. Er nennt die bewunderten Kollegen (Raddatz) ebenso beim Namen wie die weniger bewundernswerten. Er benennt dezent, doch deutlich das Talent zur Intrige. Wehmütig schaut er zurück auf das Feuilleton als »Ort des guten Schreibens«.
Wir nehmen teil an Greiners privatem Leben, seinem Liebesleben, seiner Familie, seiner Leidenschaft für Autos, Motorräder und Reisen. Ihm gelingt auch eine Art Geschichtsschreibung des Alltags. Vieles haben wir, seine Zeitgenossen, ja ähnlich erlebt und wahrgenommen. Das Buch endet mit dem Stichwort »Zimmer«. Greiner macht sich Gedanken darüber, was er wohl, wenn es die Kultur der Grabbeigaben noch gäbe, ins Jenseits mitnehmen würde – und resümiert: »Ich fürchte, ich werde meine Reise alleine antreten müssen. Wenn sie gutgeht, so hilft mir Gott«. Das glaubt er hoffentlich selbst nicht.

Sigrid Lüdke-Haertel
Ulrich Greiner: Das Leben und die Dinge.
Alphabetischer Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2015, 214 Seiten, 19,90 €

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