Es sind viele thematische Ebenen, die sich bei der neuen Ausstellung in der Schirn, »Walk!« miteinander verbinden. Als Brückenbauer zur Kunst des 19. Jahrhunderts hat sich die Schirn mit ihren Ausstellungskonzepten stets verstanden, und hier greift sie die Idee des Flaneurs auf, die Charles Baudelaire erfand, das absichtslose Umherschweifen, die kapitalismuskritische Uneffektivität sozusagen, die sich in den 1960er und 70er Jahren zur Konsumkritik auswächst und in eine Form der Wiederaneignung des urbanen Raums gipfelt. Die Künstler*innen verlassen die Museen und Galerien und gehen auf die Straße. Walking Art entsteht, und sie mündet fast immer in einen performativen Akt.
Sicherlich haben Wandern und Spazierengehen in der hoffentlich bald abgelebten Pandemie einen neuen Stellenwert erhalten, und auch deswegen scheint der Zeitpunkt, »Walk!« zu präsentieren, den Ausstellungsmachern genau der richtige zu sein. Bequem herum zu flanieren, das allerdings sollte man sich bei einem Besuch der Ausstellung nicht vorstellen, zu verwickelt der Parcours, zu disparat die Themen, die sie umfasst – und die in sechs Kapitel lose und ein wenig unverbindlich geordnet sind: Umherschweifen, Beobachten, Nicht-Gehen, Erzählen, Gehen, Produzieren. Wobei der »Moonwalk« der Südkoreanerin Miae Son gleich unter zwei Kapitel fällt, einmal als verspielte Anleitung mit bemaltem Papier und Musikwalze, einmal als Video der Künstlerin selbst. Das ist die poetische Facette der Ausstellung. Es gibt auch verstörende, wie beispielsweise die von Bouchra Khalili aus Marokko mit ihrem »Mapping Journey Project«, das von Flucht, Migration und Menschenhandel erzählt und für das sie u.a. in Ramallah, Marseille, Bari und Barcelona recherchiert hat. Im Untergrund sind die Stimmen von illegalen Flüchtlingen zu hören.
Mit seinen Exponaten bewegt sich »Walk!« also über den gesamten Erdball. Künstler aus Patagonien sind genauso dabei wie die aus Burkina Faso, sie kommen aus der Schweiz, England, Guatemala, aus Japan, den USA, der Türkei, Frankreich, Südkorea, Pakistan, Afghanistan, dem Libanon und Kanada. Damit wird eine Globalität erzeugt, die Unterschiede offenlegt, aber auch große Gemeinsamkeiten.
Es sind über 100 Kunstwerke – Videos, Skulpturen, Zeichnungen – aus 40 Ländern zu sehen. Der erste Blick fällt auf den Film »Ghetto Collector« des Belgiers Francis Alÿs, dem man stundenlang zusehen könnte. Er zieht an einer langen dünnen Schnur einen zusammengebastelten Spielzeughund aus Pappe und Zinn durch die nächtlichen Straßen von Mexiko Stadt in der Nähe der Kathedrale. Straßenkehrer, junge Paare auf dem Nachhauseweg, im schummrigen Licht leuchtende geöffnete Tacobuden verdichten sich zu einem verzaubert- düsteren nächtlichen Mexiko-Kosmos. Der Spielzeughund sammelt derweil mittels eines Magneten weggeworfene Teilchen von der Straße auf.
Ein loser Zusammenhang ergibt sich mit einer Installation, die im Kapitel »Produzieren« untergebracht ist. Darin hat der Japaner Yuji Agematsu aufgesammelte kleinste Stückchen Zivilisationsmüll in die durchsichtigen Zellophanhüllen von Zigarettenpackungen gefüllt und der Reihe nach auf zwei Borden aufgestellt.
Beobachten, das sind die Videoüberwachungskameras von Straßenecken, das sind die Zeichnungen von Straßensperren in Karachi, oder die Arbeit von Kubra Khademi aus Afghanistan, die sich mit einer Rüstung, die ihre Weiblichkeit betont, auf die Straßen wagt und sich damit zwangsläufig sexuellen Belästigungen aussetzt. Der Schwarze Pope.L aus Newark hingegen wühlt sich für seine Performance »The Great White Way« in einem Supermankostüm und aufgeschnalltem Skateboard durch den Schlamm und das Gras auf dem Weg zur Freiheitsstatue.
Zauberhaft leicht scheint der Schlusspunkt in der Sektion »Produzieren«: Die US Amerikanerin Carole McCourt hat einen Weg gelegt durch ein Labyrinth von Leinenpapierblättern, die mit getrockneten Gräsern bedruckt sind.
Und ein sehr nettes Zitat nicht nur für Frankfurter: der Häuserkampf ist auch dabei …
Die Ausstellung lebt vom Fragmentarischen, vom Gesammelten und Versammelten und offenbart damit eine kleine Schwäche, die in ihrer Qualität liegt: zu viel Sehenswertes, Bedenkenswertes, das Innehalten erfordert – auf zu wenig Platz.
Thematisch aufeinander bezogen und doch eine eigene kleine Ausstellung für sich hat der Portugiese Carlos Bunga mit seiner Installation in der Rotunde geschaffen: »I always tried to imagine my home« ist eine bewegende Metapher auf die Fragilität eines Wohnsitzes, einer Heimat – seine Mutter floh mit ihm während Bürgerkriegs aus Angola. Verlebte benutzte Möbel, ummantelt mit Pappe.
Susanne Asal (Foto: Installationsansicht: WALK!
Bani Abidi, Security Barriers A–Z, 2009–2019,
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Marc Krause)
Bis zum 22.Mai: Di., Fr., Sa. So. 10–19 Uhr; Mi., Do. 10–22 Uhr
www.schirn.de