»Drei Etagen« von Nanni Moretti

Wenn von Nanni Moretti die Rede ist, kommt einem unwillkürlich sein Film »Liebes Tagebuch« aus dem Jahr 1993 in den Sinn. Dieses Meisterwerk der Leichtigkeit charakterisiert Moretti als einen Filmemacher, der sich kritisch, doch auch mit einer Ironie, hinter der oft Bedauern zu erkennen war, über gesellschaftliche Entwicklungen äußert. Aber der umtriebige Regisseur, Autor und Schauspieler ist älter geworden. Jetzt macht er Filme für Erwachsene, etwa jene, die den Tod naher Verwandter verkraften mussten (»Das Zimmer meines Sohnes« und »Meine Mutter«). Filme also, die ein Publikum mit Lebenserfahrung suchen. So ein Film ist »Drei Etagen«.Das komplexe Geschehen spielt sich in einem Mehrfamilienhaus in Rom ab, und da es sich um einen Film handelt, der auf einem Roman basiert, sind die Probleme zwischen den Nachbarn und innerhalb der Familien gravierender als gemeinhin und dazu exemplarisch für die sozialen Entwicklungen in unserer Gesellschaft.
Moretti hatte den Roman »Über uns« von Eshkol Nevo gelesen, den Autor in Israel angerufen und ihm um Erlaubnis gefragt, sein Buch verfilmen zu dürfen. Neu ist, dass er für einen Film eine Vorlage verwendet hat. Er bewegt sich aber auf gewohntem Gelände, indem er die Handlung von Tel Aviv nach Rom versetzt. Die Protagonisten sind also Italiener mit starken Gefühlsregungen.
Es wird sehr emotional, wenn etwa der Familienvater Lucio (Riccardo Scamarcio) den dement gewordenen Nachbarn Renato (Paolo Graziosi) verdächtigt, er könne sich an seiner kleinen Tochter vergangen haben – um einmal den größten Konflikt im Film zu benennen, der einen ganzen Rattenschwanz von Verwicklungen nach sich zieht.
Bis dahin war das ältere Ehepaar für Lucio und seine Frau Sara (Elena Lietti) gut genug, ihre Tochter zu betreuen, wenn die Eltern ihre Geschäfte erledigen mussten. Doch plötzlich sind geringste Veränderungen im Verhalten des kleinen Mädchens verdächtig, obwohl alle Untersuchungen und die Aussagen des Kindes den Alten freisprechen. In unserer übersexualisierten Kultur gerät ein freundlicher alter Herr schnell in den Ruf, ein Kinderschänder zu sein. Aufgebracht greift Lucio den hilflos im Krankenhaus liegenden Renato tätlich an, anstatt sich selbst zu hinterfragen.
Ein weiteres Beispiel für Uneinsichtigkeit liefert der Teenager Andrea (Alessandro Sperduti) der zu Beginn des Films im betrunkenen Zustand eine Frau überfährt, die diesen Unfall nicht überlebt. Statt Reue verlangt er von seinem Vater, dem Richter Vittorio, den Moretti selbst spielt, seinen Einfluss bei dem anstehenden Prozess geltend zu machen.
Klar, dass der strenge Vater seinem Sohn nicht nachgibt, klar auch, dass der Sohn nach der Haftstrafe sein Elternhaus verlässt. Seine Mutter Dora, eine vermutlich mildere Richterin, die von der Moretti-Vertrauten Margherita Buy wieder eindrucksvoll dargestellt wird, muss sich zwischen Ihrem Mann und ihrem Sohn entscheiden.
Ein weiteres Thema sind die Auseinandersetzungen zwischen den Ehepartnern. Da hat Sara genug von Lucios Verdächtigungen, und als dann noch ein Seitensprung mit der Renatos Enkelin Charlotte (Denise Tantucci) dazu kommt, wird ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Auf einer anderen Etage leidet Monica (Alba Rohrwacher), die gerade Mutter geworden ist, unter der ständigen Abwesenheit ihres Mannes Giorgio (Adriano Giannini), der beruflich viel unterwegs ist. Sie sieht sogar einen Raben auf ihrem Tisch, der sie regungslos beäugt.
In zwei Fünf-Jahres-Sprüngen begleitet der Film die Entwicklung der Figuren. Und in bester Moretti-Manier besteht Hoffnung, dass sich alle Konflikte, die aus gesellschaftlicher Vereinzelung und allgemeiner Egozentrik entstanden sind, lösen oder zumindest ertragen lassen. Das ist vielleicht etwas zu optimistisch, zumal der Film neben den aktuellen Diskussionen über Natur und Umweltschutz etwas altmodisch wirken mag. Die geschilderten Probleme dürften aber ihre Bedeutung behalten.
Es ist Moretti vorgeworfen worden, dass der umfangreiche Stoff besser für eine Miniserie geeignet gewesen wäre. Man darf wohl annehmen, dass er diesen Gedanken auch gehabt hat. Aber einem Nanni Moretti, der nicht nur in mehreren Funktionen als Filmemacher, sondern auch als Produzent, Filmverleiher und Kinobetreiber aktiv war und ist, sollte man nicht verübeln, dass er dem Kino treu bleibt. Und wenn die Handlung bisweilen überbordet, bleibt in »Drei Etagen« genügend Zeit für ergreifende Momente.

Claus Wecker

DREI ETAGEN (Tre piani)
von Nanni Moretti, I/F 2021, 117 Min.
mit Margherita Buy, Riccardo Scamarcio, Alba Rohrwacher, Adriano Giannini, Nanni Moretti. Nach dem Roman »Über uns«
von Eshkol Nevo.
Melodram / Start: 17.03.202

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