Wiesbaden/Darmstadt: Hessisches Staatsballett tanzt Ohad Naharins »Last Work«

Anfangs sind nur die Schritte auf dem Laufband zu hören, das gleichmäßige Tappen, das dem gesamten Stück einen Rhythmus vorgibt. Eine Frau im blauen Kleid sorgt im Bühnenhintergrund dafür. Scheinbar mühelos wird sie eine ganze Stunde lang joggen, ohne von der Stelle zu kommen. Ohne dass man ihr auch nur einen Hauch von Anstrengung, von Atemlosigkeit ansieht.
»Last Work« hat Ohad Naharin seine 2015 entstandene Choreografie genannt, die der Israeli damals mit der Batsheva Dance Company zur Aufführung brachte, deren Leitung er im gleichen Jahr abgab. Das Hessische Staatsballett hat diese nun aufgegriffen, als erstes Ensemble nach dem Original. Niemand konnte ahnen, dass die vielschichtige Schöpfung am Premierentag im Großen Haus des Darmstädter Staatstheaters durch den Angriff der Hamas auf Israel am gleichen Morgen eine grausige Aktualität erhalten würde.
Die Bilder am Ende wirken entsprechend eindringlich: Eine weiße Fahne wird geschwenkt und später am Zipfel so festgehalten, dass sie wie ein leeres, noch neu zu beschreibendes Blatt aussieht. Eine Maschinengewehrsalve ertönt. Einer bastelt, mit dem Rücken zum Publikum, an einem Gerät, das sich als Waffe enttarnt. Mit Paketklebeband wird ein Stab so am Boden fixiert, dass er einem Zelt ähnelt. Dann verbindet die gleiche Person alle anderen Tänzerinnen und Tänzer auf diese Weise mit dem beim Abrollen so widerlich widerspenstig ratschenden Tape, friert sie so in den Posen ein, in denen sie schon vorher stehen. Hilflos und verwundert winden sie sich ein bisschen, als würden sie nicht verstehen, was mit ihnen geschieht. Auch die Läuferin wird bei der Fesslung nicht ausgespart. Die Individuen werden als Masse zusammengeschweißt, beginnen sich noch mal gemeinsam zu regen.
Aus dem, was vorher so abstrakt erschien, wird damit Konkretes, leichter zu Deutendes. Der erste Teil bot Rätselhafteres. Bewegungen wie in Zeitlupe, mit schräg abgeknickten Händen und Füßen, Zusammenfallen der Körper und Wiederaufrichten. Hasenähnliches Hoppel, wie bei einem Kinderspiel. Virtuose Sprünge. Alle rotten sich zusammen, die Hände spitz wie Häuschen über den Köpfen geformt, auf einer Seite hin und her zuckend.
Weiße Hauben werden über die Köpfe gezogen, eine trägt Tutu, manche Tänzer kleiden sich wie Mönche. Die Kostüme sind von Naharins Frau Eri Nakamura erdacht, die Musik, von drohend bis düster, manchmal sehr minimalistisch und doch oder gerade deshalb Spannung entfachend, ist von Grischa Lichtenberger komponiert, und Lichtdesigner Avi Yona Bueno von Bambi setzt das alles in Szene.
Es gibt keine Brüche, keine Abschnitte, alles ist im Fluss und gerade durch die Präzision der Körperlinien im Raum zeitlos. Die fantastischen Tänzer*innen meistern die fremde Bewegungssprache des Gaga-Erfinders beeindruckend. Ein Abend, der vom Alltag nicht ablenken will, der jedoch hypnotisiert und dessen Inhalt schon in seinem Entstehungsjahr nicht als letztes Werk Naharins vorgesehen war. Allerdings musste die Batsheva-Kompanie, für die der 71-Jährige weiter aktiv ist, selbst geplante Gastspiele infolge des Krieges absagen.

Katja Sturm / Foto: © Andreas J. Etter
Termine Darmstadt: weitere Januar/Februar
Termine Wiesbaden: 2., 8., 13. Dezember, 19.30 Uhr, weitere im Januar
www.staatstheater-wiesbaden.de

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