Dracula am Schauspiel Frankfurt – Der Mythos muss leben, sonst bringen wir ihn um

Eine düstere Bühne – halb romantische Schlossruine, halb abgehalftertes Herrenhaus – wird von einer fröhlich hereintanzenden Abendgesellschaft in Besitz genommen, als da sind: Der junge aufstrebende Anwalt Jonathan Harker, seine zukünftige schöne Frau Mina (Caroline Dietrich), ihre bezaubernde Freundin Lucy (Judith Florence Ehrhardt) und ihre Freier, Arthur in Tigerweste (Arash Nayebbandi) und der junge Leiter einer psychiatrischen Klinik John Seward (Stefan Graf). Und da ist eine zunächst noch nicht präzis zugeordnete Frauenfigur, die als einzige nicht für ein Fest herausstaffiert zu sein scheint. Sie trägt etwas Banales, Hose und Bluse. Und noch einer, der abgehalfterte Blasse dort, wer ist das? Müde bewegt er sich unter der aufgekratzten Party-Truppe. Wir vermuten es, bevor wir es wissen: Dracula. Er ist mitten unter uns, weder untot noch tot. Und nicht auf seinem Spukschloss in Transsylvanien.
Und nicht nur das: Kaum ergötzt sich diese kleine Abendgesellschaft, die eigentlich die Heiratsanträge von Lucy feiern wollte, schaudernd an Berichten über geisterhafte Erscheinungen und nächtliche Umtriebe auf dem idyllisch gelegenen Friedhof, da fährt er mit Vehemenz dazwischen: alles Lüge, alles Blödsinn, alles Schwachsinn! Er, Dracula, Inkarnation des Grauens vor dem Fremden, blutsaugendes Monster, sexuell aufgeladener Bösewicht, ausgerechnet er, vertritt hier die Rationalität und verdirbt der Party den Spaß am Grusel. Ausgerechnet er würdigt Aberglauben – den Glauben an sich selbst – als Geschwätz und Dummheit herab.
Johanna Wehner hat ein sagenhaftes Gespür dafür, schon im ersten Bild ihrer Inszenierungen atmosphärische Dichte zu schaffen. Dieses Bild sitzt. Die Musik sirrend, gläserne Dissonanzen. Irgendwas stimmt hier nicht, es stimmt eigentlich gar nichts.
Bram Stokers im Jahr 1897 entstandenes Blutsauerepos »Dracula« hat nun schon viele Metamorphosen und Interpretationen durchlaufen. Der kunstvoll aus Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsartikeln und medizinischen Memoranden montierte Roman erzeugt eine fast filmische Vielschichtigkeit und behauptete Dokumentalität, die aber eines nicht zulässt: Zweifel an der Dualität von Gut und Böse.
Die popkulturellen Verweise des vielfach verarbeiteten Stoffs nimmt Wehner spielerisch zur Kenntnis, wenn sie Jonathan Harker (Christoph Bornmüller), den jungen Anwalt, der zu Dracula auf die Burg in Transsylvanien geschickt wird, im Polanski-haften Samtanzug recht tollpatschig und großäugig durch die Kulissen stolpern lässt und ihrer Inszenierung auch ein bisschen Musical nicht verwehrt … doch halt, was singen die da eigentlich? »Froh zu sein bedarf es wenig« als Kanon, und Dracula (Matthias Redlhammer) immer mit dabei. Zwar in der zweiten Reihe, aber immerhin.
Johanna Wehner erzählt – fast – die gesamte Geschichte, doch mit einer verblüffenden Gewichtung. Dracula widerspricht und hinterfragt die Gewissheiten der anderen: Wer entscheidet, was gut ist, wer entscheidet, was Pflicht ist, warum muss man gehorsam sein? »Aber der Fremdling im fremden Land, er ist ein Niemand. Die Menschen kennen ihn nicht«, sagt Dracula zu Jonathan Harker im Roman, und dies arbeitet die Regisseurin als Schlüsselszene heraus.
Dracula wird in dieser Inszenierung zur Projektionsfläche alltäglicher Ungewissheiten, Unsicherheiten und Ängste, und ganz klar: Angstlust. Draculas unheimlich reizvoller Mythos ist die Idealfolie dafür, Ängste abzuleiten, damit wir nicht Schaden nehmen, dafür anderen aber Schaden zufügen können. Und das wird getan, und ob! Der Vampir-Graf flüchtet nach Transsylvanien, die zur Meute mutierte Partygesellschaft stürmt ihm hinterher, so schlagen Feindbilder, so schlägt Angst – vor dem Anderen? – um in Hass und in Mordlust.
Hier wird ein inszenatorisches Wagnis eingegangen, lebt der Roman doch von einer vielstimmigen Gleichzeitigkeit, nicht von einer psychologisierenden Entwicklung von Figuren, die ja die Grundessenz jedes Theaterstückes bildet. Normalerweise beobachtet man Menschen auf der Bühne dabei, was sie tun, wie sie es tun, warum sie es tun, wie sie sich zueinander verhalten. Das Ensemble im Roman entfaltet sich indes kaum, die Spannung entsteht nicht durch ihre Beziehungen zueinander – die sind von ja vornerein definiert – sondern das Fortschreiten der Geschichte. Die Regisseurin inszeniert das als Fläche, verzichtet weitgehend auf Individualisierung und Spielszenen, lässt die Schauspieler*innen mal allein, mal chorisch ins Publikum sprechen. Sie wanken als gut geöltes choreografisches Ensemble und eingespielte Truppe mal nach links, mal nach rechts, stürzen aus einem Gang hervor, rasen die Treppe hinunter und wieder hinauf. Hirnloses Gerenne, bloßer Aktivismus. Das Töten von Dracula – eine perfekte Choreographie.
Gut, es fügt sich in unsere Zeit, in der Hass und Mordaufrufe offenbar bereits so alltäglich sind, dass sich kaum einer noch darüber aufregt. Könnte/sollte das Theater sich stellvertretend aufregen? Oder wollte Johanna Wehner zeigen, wie alltäglich das alles schon ist, indem sie beispielsweise die zierliche Heidi Ecks als furchteinflößenden Professor van Helsing (Professor für Was? Für das Okkulte?) besetzt hat? Er/sie führt den Mob an, eigentlich eine zwielichtige Gestalt, die hier aber sehr nett aussieht. Und ausgerechnet Dracula warnt vor solch einer Entwicklung, vor seinem eigenen Mythos, der ja ein von Menschen gemachter, ausgedachter ist.
»Wir brauchen keine Beweise! Handeln, nicht denken, nur der Pfahl bringt uns Frieden«, brüllt Jonathan.
Ist das »Böse« schon so normal?

Susanne Asal / Foto: © Arno Declair
Termine: 1., 6., 9. Dezember, 19.30 Uhr; 23., 31. Dezember, 18 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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