Mit dem Herzen sehen – Das Velvets Theater in Wiesbaden

Offenbar hat niemand mitgezählt. Barbara Naughton, die Leiterin des »Velvets Theaters« in Wiesbaden kann es auch nur schätzen. Die Bühnenadaption von Antoine de Saint-Exupérys unsterblicher Erzählung »Der kleine Prinz« sei seit 1978 im Programm und bestimmt schon zweitausendmal gespielt worden. Wer nach der Vorstellung überzeugt ist, der französische Autor habe die Geschichte des auf einem kleinen Planeten gestrandeten Prinzen eigens für das Masken-, Puppen- und Pantomimenspiel des »Velvets« verfasst, ist auf jeden Fall nicht allein mit seiner Meinung. Ein über die Aufführungsrechte wachender Nachfahre Saint-Exupérys habe die Inszenierung tief beeindruckt als die schönste, die er je gesehen habe, bezeichnet – und sogar geweint, weiß Barbara Naughton von ihren Eltern, den Gründern des Theaters.
Dazu muss man wissen, dass Bedrich Hányš und Dana Bufková, schon einen langen, langen Weg hinter sich hatten, der dem des kleinen Prinzen – sieht man mal vom Ende ab – gar nicht unähnlich ist, bis sie in Wiesbaden landeten. Oder soll man schreiben: aufschlugen? Als Studenten des Fachbereichs Figurentheater in Prag, so etwas gibt es da bis heute, gehörten sie zum ersten und schon bald weltweit gefragten Ensemble des legendären »Schwarzen Theaters« wie auch zu dem des nicht minder berühmten »Laterna Magica« der Moldau-Stadt, bevor sie 1967 – mitten im Prager Frühling – ihr »Velvets Theater« gründeten. Velvets heißt »Die Samtenen« und beschreibt die in den warmen schwarzen Samt gekleidete Szenerie des Schwarzen Theaters, das mit spektakulären Lichteffekten nur die Figuren selbst nebst ihren Requisiten so in Szene setzt, als würden sie sich frei und schwerelos bewegen. Im Café Slavia verkehrten sie, mit Milan Kundera, Milos Forman, Vera Chytilova, Jiri Menzel … bis dort der blühende Frühling plötzlich übergangslos in einen sibirischen Winter umschlug. Die »Velvets« flüchteten, eine kleine Odyssee war’s für das Paar über viele Länder, bevor sie sich von 1970 an als freie Gruppe hier niederließen. Das damals »Städtische«, heutige Staatstheater in Mainz etablierte das »Velvets Theater« 1975–1984 sogar als vierte Sparte! Am Gutenbergplatz war man mehr als stolz darauf, gastierte das Ensemble doch zu jener Zeit mit seinen Puppen und Pantomimen regelmäßig in den großen deutschen Fernsehshows. In Mainz entstand auch der »Der kleine Prinz«, der selbstredend – wie später das ebenfalls noch immer zum Repertoire gehörende Musikstück »Die Zauberflöte« – mehrfach ausgestrahlt worden ist.
Seit 1996 existiert das »Velvets Theater« in der Wiesbadens Schwarzenbergstraße als die erste feste Bühne des Schwarzen Theater in Deutschland – und ist bis heute die einzige ihrer Art geblieben. Das inzwischen doch in die Jahre gekommene Gründerpaar lässt die Bühne noch immer nicht los und ist weiter im Märchen »Schneewittchen und die sieben Zwerge« zu erleben, das eine richtige Familienveranstaltung ist, denn auch Tochter Barbara mischt dabei mit.
Poetisch traumhaft, magisch – das sind die Attribute, die mit man mit dem Schwarzen Theater verbindet, und die nirgendwo so in Deutschland zur Entfaltung kommen. Was man nicht sieht (und auch nicht sehen darf!), das ist der beachtliche Aufwand für jede der Produktionen. Um »Der kleine Prinz« auf die Bühne zu bringen, braucht es sage und schreibe sieben Darsteller, allein drei für die nur scheinbar schwerelosen Planeten im All.
Kaum zu glauben also, dass das Revue-Theater, das Barbara Naughton als zusätzliche Sparte etablieren will, in der aktuellen Produktion »Heiße Zeiten« mit grad mal vier Frauen auskommt. Doch das ist selbstredend nicht der einzige Grund für die langjährige Musicaldarstellerin, das seit gut zehn Jahren von ihr geleitete Haus breiter aufzustellen. Die ersten Vorstellungen von »Heiße Zeiten«, für das sie die Choreografie übernahm, bestätigen ihr, dass es einen echten Bedarf für anspruchsvolle leichtfüßige Unterhaltung ohne Zoten und dumme Witze gibt: »Die Menschen sehnen sich einfach danach, endlich wieder einmal unbeschwert unterhalten zu werden und lachen zu können.« Die bunte fetzige Show rund um das Tabuthema Wechseljahre (s. Strandgut Oktober 2021) ist im Dezember wieder im Programm. Ganz klassisch schwarz und voller Zauber sind im Weihnachtsmonat aber auch »Der Kleine Prinz«, »Momo«, »Die Zauberflöte«, »Pinocchio« und »Schneewittchen« zu sehen. Gibt es nirgendwo sonst.

Winnie Geipert

Foto: Der kleine Prinz, © Velvets

www.velvets-theater.de

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