Verschwörungsthriller geht auch ganz anders: Zu Friedrich Anis »Bullauge«

Wie immer bei Friedrich Ani sind wir sofort in seiner Geschichte. Bei seinen Figuren. Mitten in München. »Er schaute mir ins Gesicht. Das tat er jedes Mal, wenn er seinen Redefluss unterbrach, einen Schluck Kaffee trank und die Augen zusammenkniff. Als bemerke er etwas an mir zum ersten Mal … als habe er einen anderen Mann erwartet als den, der vor einer Stunde die Tür geöffnet und ihn wie einen guten Freund hereingebeten hatte.«

Der Streifenpolizist Kay Oleander – ja, wie die giftige Pflanze – hat überraschend Besuch vom Kollegen Gillis. Vielleicht, denkt Oleander, weil es um eine Wette geht. Polizisten wetten dauernd, auf alles. Eine Art Megahobby. Um den Promillegehalt des nächsten angehaltenen Verkehrsteilnehmers, um die Zahl der Tore eines Fußballspielers im Lauf eines Monats. Warum nicht auch auf seinen Zustand? Er sei doch noch am gleichen Tag unters Messer gekommen und operiert worden, meint Gillis. Wie denn der Zustand sei? »Zwei Splitter haben die Hornhaut durchbohrt«, antwortet Oleander lakonisch. »Ich hab halt jetzt ein Auge weniger … Wer immer die Flasche geworfen hat, er landete einen Volltreffer.«
Eine Bierflasche, bei einer Demo in hohem Bogen in eine Gruppe Polizisten geschleudert, ihm mitten ins Gesicht. Oleander findet, er habe sich »überhaupt nicht verwandelt. Ich war derselbe wie vor der Attacke, abgesehen von dem ovalen Filzteil auf meiner linken Gesichtshälfte, das ich trug, um mein Wohlbefinden zu steigern und das mich zudem an alte Zeiten auf hoher See in meinem Kinderzimmer erinnerte. Eine innere Freude, die ich mit niemandem teilte«, heißt es auf der zweiten Romanseite. Das Kapitel trägt die Überschrift »Ohne Humor ist alles nichts«, und natürlich ist das alles die blanke Selbstbeschwichtigung. Kay Oleander hat es erwischt. Mächtig erwischt. Ein Moment nur hat ihn aus der Welt geschleudert. Und wir sind dabei. Ganz nah, ein ganzes Buch lang. Oleander ist der Erzähler von »Bullauge«, dem neuen Roman von Friedrich Ani.
Kay Oleander ist neu in Anis Kosmos. Der Polizist Tabor Süden bringt es dort auf neunzehn Bücher, dazu acht Originalhörspiele und eine Hörspielserie, Übersetzungen in viele Sprachen, Verfilmungen – alle mit dem zentralen Thema »Vermissung«, wie Ani das nennt. In seinem vorletzten Roman »Letzte Ehre« stand die Münchner Oberkommissarin Fariza Nasri im Mittelpunkt, davor die Polizisten Polonius Fischer und Jakob Franck. Jetzt also einer mit dem bisher niedrigsten Dienstgrad, ein Blauer. Mehr als 30 Jahre bei der Münchner Polizei, die letztmögliche Sprosse auf der Karriereleiter längst erreicht, die Beförderung zum Polizeihauptmeister: »Vier Sterne, Ende Gelände.« Geschieden, auf die Sechzig zugehend. »Ein Mann nicht in den besten, aber auch nicht in den schlechtesten Jahren; regelmäßig besucht von einer Frau, die keine Fragen stellte; zielgerichtet übte sie ihren Beruf aus und hielt mir mit ihren Handlungen und ihrem bloßen Dasein Leib und Seele – in einer Nussschale oder nicht – zusammen.« Oleanders Stadt besteht aus »kaputten Fahrzeugen in Straßen mit austauschbaren Namen; blutenden, schreienden, überforderten Verkehrsteilnehmern; Autonummern und Verkehrsschildern; Verweisen und Paragrafen, Belehrungen und Kontrollen bei Sonne, Regen und Schnee, tagein, tagaus, jahrein, jahraus«.
Zuhause, in seiner Wohnung vergraben, sinniert er: »Was bewirkten wir mit unseren pflichtgemäßen Belehrungen, unseren Strafanzeigen und ordnungshüterischen Mienen, unserem grimmigen Auftreten in zu engen Dienstuniformen, die Hand am Schlagstock, den Oberkörper angespannt wie Hermann der Etrusker?
Jeden Frühling, Sommer, Herbst dieselbe Schlacht, jedes Wochenende derselbe Aufmarsch der Kriegsparteien. Mancher kippte um vor lauer Rausch oder landete in der Ausnüchterungszelle; einer mandelte sich auf; eine brüllte uns unverständliche Beleidigungen entgegen; einer brauchte unbedingt Handschellen, bevor er handgreiflich wurde; einer ergab sich freiwillig; eine rannte vor uns weg, und niemand rannte ihr hinterher. Beifall ringsum; die angeschmierten Bullen standen da wie begossene Pudel und warteten mit der nächsten, sinnlosen Aktion, bis das Gelächter einigermaßen verebbt war.
Schreien!
Auf uns hörte sowieso niemand. Was für einen armseligen Beruf übten wir aus. Wenn wir Pech hatten – richtig viel Pech, einen Arsch voll Pech –, schleuderte uns ein durchgeknallter Mitbürger eine Flasche an den Schädel und verstümmelte uns für immer, und es kümmerte ihn einen Scheiß.«
Jetzt also hat dieser Kay Oleander in sich ein tiefes schwarzes Loch. Es ist das Schwarz des Noir, der Schwarzen Serie, der Romane von Cornell Woolrich. Dem widmete Ani 2018 zum 50. Todestag einen Text mit dem symbolträchtigen Titel: »Kriminalschriftsteller sind die letzten Romantiker, wussten Sie das nicht?«
Woolrich sah sich selbst als »Narr an seiner Schreibmaschine«, den Tod aus Trotz mit dem Versuch betrügend, schreibend eine Zeitlang die Dunkelheit zu überwinden, die ihm seit jeher vertraut war und ihn eines Tages vom Antlitz der Erde tilgen würde. Alles, was er versucht habe, schrieb der Mann, der das Serien-Schwarz erfand, war, auf flüchtige Weise dazubleiben, nachdem er schon tot gewesen sei. Dazubleiben im Licht, bei den Lebenden, »a little while past my time«, so Ani in seinem Jubiläumstext. Und weiter: »Wenn es dunkel ist, ist es nie ganz dunkel … Woolrich erfand keinen Serienhelden, bei ihm wusste man nie, wie eine Geschichte ausging; seine Figuren – Männer wie Frauen – kriechen nachts unter ihren Schatten, um etwas weniger zu frieren; den jeweiligen Helden oder die Heldin hetzen die Mächte der Finsternis in ungeahnte Gefilde. Trotzdem: Der Blick des Mannes an der Maschine ist geprägt von unbedingter Empathie. Auch darin unterscheidet Woolrich sich von vielen seiner Zunft, den Coolen, Zynischen, Abgebrühten – er verweigert die Distanz, er folgt seinen Leuten wie ein Erzengel, der die Hölle gesehen hat und sie, so gut es geht, davor bewahren möchte. Das kann nicht immer klappen, aber es lohnt den Versuch.«

»Wie heißen Sie?«
»Oleander.«
»Wie die giftige Pflanze?«
»Ja.«
»Und was wollen Sie von mir?«
»Nichts.«

Kay Oleander nannte man als Kind den Schreiber. Er erfand Geschichten, war ständig am Schreiben, am Erzählen. Dafür hörte er viel zu. Man darf an dieser Stelle gewiss auch Friedrich Ani als Namen einfügen. Er hat sein Ohr an der Straße, im Biergarten, im Wirtshaus – ein nicht unbeträchtlicher Teil des Romans spielt in Kneipen. Und dort hat auch die Frau, die vielleicht die Flasche geworfen hat (nachzuweisen ist es ihr nicht), etwas aufgeschnappt. Jemand soll ermordet werden. Ein Politiker. Es soll ein Zeichen sein. Eine »bedeutende Aktion«. Oleanders Unfall ereignete sich bei einer Demo von »Spaziergängern« mit Deutschlandfahnen und Parolen wie »Freiheit dem Volk« oder »Meinungsdiktatur, nein danke«. Verlässlich zu ermitteln ist der Täter nicht, also macht Oleander sich selbst auf die Suche, konfrontiert auch die Frau. Silvia Glaser ihr Name. Bald »Via« für ihn. Sie hasst die Polizei. Ihr Leben wurde durch einen überholenden Streifenwagen aus der Bahn geworfen. Sie ist entwurzelt, ihr Leben ein Abfalleimer. (Beeindruckend, wie Ani mit wenigen Zeilen Lebenswege und Sitten- und Zeitbilder skizziert.)
Die zwei Gefallenen, der Bulle und die Bullenhasserin, finden zu einander, stoßen sich ab, streiten, verbünden sich. Niemand aber will dem außer Dienst befindlichen kleinen Streifenpolizisten mit seiner Information glauben. Vier Männer in einem Biergarten, die von »Nine Eleven« reden. Ja, der Bundespräsident kommt zum Jahrestag der Grundsteinlegung des Jüdischen Zentrums am 9. November nach München, das LKA aber verbittet sich Einmischung. »Kleiner Streifenpolizist wittert Verschwörung inklusive Attentat«, diese Schlagzeile wird es nicht geben.
Schon früh in Anis Roman wird auf eine bei einem Volksfest vor mehr als vierzig Jahren explodierte Nagelbombe rekurriert. Der Attentäter kam dabei ums Leben, die Suche nach Hintermännern versandete. Überhaupt, reißt euch am Riemen, muss man doch bitte immer vernünftig und realistisch bleiben. Friedrich Ani überzieht nie. Jenseits aller gängigen Verschwörungsthriller und Actionmuster erzählt er in »Bullauge« – einen exzellenten Verschwörungsthriller. Dies soghaft, intelligent, menschlich, herzzerreißend, dunkelschwarz und jenseits aller Klischees. Ein Erzengel, der die Hölle gesehen hat. Wir hören nicht einen einzigen »Bang«, nur dann schließlich den Satz: »Wir müssen mit Ihnen reden. Ich bin der Einsatzleiter eines MEK. Sie wissen, was das bedeutet.«

Dazwischen gibt es Sätze wie »Der Regen schwemmte die Stunden aus dem Sonntag«, Kapitelüberschiften wie »Begossener Pudel im Regen«, »Geschorener Maulwurf«, »Verfickte Sackgesichter«, »Das rote Leuchten«. Ein Nachbar, als Krankenhausclown arbeitslos geworden, leistet in seinem Kostüm erste Hilfe, eine Nachbarin verübelt ein Massaker an Blumen. Man hört die Bretter im Wirtshaus knarzen, schmeckt den Ouzo, spürt die Dunkelheit, den Regen, das Alleinsein. Die Paranoia. Ein weiß-blauer Noir. Vom Meister.

Alf Mayer / Foto: © Susie Knoll/Suhrkamp Verlag

Friedrich Ani: Bullauge.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
267 S., Hardcover, 23 €

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