Wie sich Jan Koneffke das Leben von Joseph Roth vorgestellt hat

Ein bewegtes Leben, das vom Helden sowieso, wenn auch nur kurz; das vom Autor ebenso. Jan Koneffke wurde zwar in Darmstadt geboren und ist dort auch aufgewachsen, seitdem aber stetig unterwegs. Zurzeit lebt er in Wien und in Rumänien. Auch Berlin und Rom zählen zu seinen Wohnorten. Sein jetziger Held, in Brody, Galizien, geboren, war ebenfalls sein nur kurzes Leben (1894–1939) ständig unterwegs, wenn auch nicht immer freiwillig. Joseph Roth, einer der ganz großen Erzähler der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Genie, aber versoffen. Der neue Roman von Jan Koneffke erzählt eine Episode aus dem Leben von Joseph Roth, die es tatsächlich gegeben haben könnte.
Aber nicht gegeben hat.

Tante Fanny aus Berlin ist für die Kinder aus Berlin schon wegen ihrer außergewöhnlich guten Mehlspeise in bester Erinnerung. Selbst mit über siebzig fährt sie ein flottes Auto, kleidet sich extravagant und auch als Student verbringt der Ich-Erzähler noch immer gerne seine Ferien bei dieser Großtante. Eines Tages stößt er in Fannys Bibliothek auf das Gesamtwerk von Joseph Roth. Alle Bücher enthalten Kommentare von Fanny. »Sie umrahmten den Text, quetschten sich in die Zeilen, ein Bleistiftgewimmel aus Krakeln und Buchstaben.« Tatsächlich hatten sich die 17-jährige Fanny und Joseph Roth 1914, kurz vor dem ersten Weltkrieg, kennengelernt. Der junge jüdische Student aus Galizien, zieht bei den Fischlers, Fannys Eltern, in ein kleines Zimmer als Untermieter ein. In ihrem Tagebuch beschreibt Fanny die allmähliche Annäherung der Beiden, bis ihr klar wird, sie hat sich in diesen stillen, jungen Mann verliebt. Die Romanze endet, als Joseph Roth nach einigen Monaten auszieht. 1937 verlässt auch die Jüdin Fanny Wien und reist nach Paris. Dort trifft sie Roth wieder. Er ist inzwischen ein bekannter Schriftsteller geworden. Als ihr Geld knapp wird und sie das Gartenhäuschen, in dem sie untergekommen war, räumen muss, lädt er sie ein, bei ihm im Hotel de la Poste zu wohnen. Fanny leidet unter starkem Heimweh und die Begegnung mit Roth versetzt sie zurück ins »ahnungslos friedliche Wien, das nach Hafer und Pferdemist, Jod und Karbidlampen, Bratmaroni und Schuhwichse« roch, »dieses gute Vergangene stillte mein Heimweh!« Doch Roth hat sich seit ihrer ersten Begegnung in Wien sehr verändert. Er ist Alkoholiker geworden. Und der »junge galizische Zimmerherr« hatte sich in einen Mann »mit roten, vorquellenden Augen« verwandelt, der Student »mit dem blonden, pomadigen Schopf« in einen Mann »mit traurig gelichtetem Haar«.
Inzwischen ist ihr Geliebter in ihren Augen der »verfallene Rest eines Mannes, ja eine Ruine an Seele und Leib«, obwohl Roth erst dreiundvierzig Jahre alt ist. In dem Kreis der Exilanten in Paris, die sich im Café »Le Tournon« treffen, schwärmt Roth vom Katholizismus und der vergangenen Habsburgischen Monarchie.
Wagt es Fanny, ihm zu widersprechen, reagiert er mit Wutausbrüchen, ja mit Hass. »Dieser Hass war ein Abgrund, der alles verschlang, was Joseph und mich vereint hatte, in der Vergangenheit und in der Gegenwart.«
Fanny, diese starke, selbständige Frau, die zunehmend an dieser schwierigen, ja grausigen Beziehung zu Joseph Roth leidet, mit der wir mitgelebt, ja mitgelitten hatten, diese Fanny hat es nie gegeben. Alle Figuren, die so authentisch erscheinen, hat Koneffke in dieser Konstellation erfunden.
Man könnte auch sagen: gefunden. Er und seine Frau hatten nämlich erfahren, dass in dem Haus, in dem sie in Wien lebten, auch Joseph Roth als junger Mann zur Untermiete gewohnt hatte. Aus diesen frühen Jahren von Roth ist sehr wenig bekannt. Koneffkes Phantasie konnte sich frei entfalten. So konnte er Fakten und Fiktion zu einer schlüssigen Geschichte verbinden, die er, sehr glaubhaft, aus der Perspektive Fannys erzählt. Roths Schicksal, das eines Säufers, ist bekanntlich zum Heulen. Er, einer der größten Erzähler des vergangenen Jahrhunderts, stirbt, verarmt, vereinsamt, mit nur fünfundvierzig Jahren in Paris. In Wien, in der Rembrandtstraße 35, hängt jetzt aber eine Gedenktafel – für diesen Joseph Roth, der von so weit her, aus Brody in Galizien, zu uns, in den Westen kam und uns einige der schönsten Geschichten der Weltliteratur hinterlassen hat.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto:  © Isolde Ohlbaum
Jan Koneffke: Im Schatten zweier Sommer.
Roman. Galiani Verlag, Berlin 2024, 304 S., 24 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert