Geld verträgt kein Gewissen – Sybille Ruge wagt sich in ihrem zweiten Roman in die Welt der Superreichen

Das verflixte zweite Buch. So ziemlich jeder Autor und jede Autorin kennt das. Lässt sich an das Niveau des Erstlings anschließen? Aber wie? Da braucht es Courage. Sybille Ruge hat sie. Und dazu Talent – zum Verschenken viel. Was sie so nebenher an Feuerwerk in ihrem Zweitling »9mm Cut« abbrennt, sucht seinesgleichen. Seit Bogart und Bacall gab es noch nicht oft solch einen Schwall an gutgelaunten Screwball-Dialogen, seit Ross Thomas und Richard Condon noch nicht oft solch ätzend sardonische Upper-class-Dissektion. Für Ruges Debut »Davenport 160 x 90« hagelte es den Deutschen Krimipreis, den Stuttgarter Krimipreis und den Glauser. Völlig verdient. Jetzt also »9mm Cut«. Der Titel bezieht sich auf den vom Greenkeeper getrimmten Rasen einer Villa am Zürisee, er entspricht aber auch der Sensenhöhe, mit der die Autorin den Sumpfpflanzen der Hochfinanzwelt auf die Pelle rückt.

Betrieb Ausputzerin Sonja Slanski in »Davenport 160 x 90« noch eine Inkassofirma, deren »Forderungsmanagement« sich auch um Dinge im unreinlichen Wirtschaftsbereich teurer Frankfurter Anwaltskanzleien kümmerte, so ist die Heldin vom »9mm Cut«, die wir nur mit dem Alias »Eve Klein« kennenlernen als »Mediatorin« bei den Superreichen tätig. Nicht mehr Frankfurt, sondern Zürich und Zürcher See. Dort in einer Villa, »die mit Alpträumen Ernst macht«, spielt hauptsächlich Sybille Ruges zweiter Roman. Und ihr Rezept dafür: Noch höher pokern. Die Fallhöhe vergrößern. Und die Bosheit auch.

Andere würden mit dem skalpierten Schädel in der Plastiktüte beginnen oder dem zerschmetterten iPhone, heißt es im ersten Absatz. Nicht aber die Ich-Erzählerin. Die hat ein Faible für die Antike. Also zuerst die Medusa über dem Villeneingang – als Einstieg. Vor ihrer Reise in die gefühlskalte Welt der Geldgletscher aber, so verrät der zweite Absatz, hat die Erzählerin die Medusa schon auf der Versace-Unterhose ihres Lovers Ricky gesehen, als er ihr beim Vögeln in der Umkleide einen klassischen Tripper spendiert. Dann vibriert mittendrin das Telefon. K2 ist dran. Alles auf den ersten zehn Zentimetern im Roman.
K2 wartet in seinem Porsche Taycan. Er hat einen wichtigen, einen großen Auftrag. Er braucht seine »Spezialistin für die konstruktive Beilegung von Konflikten bei außergerichtlichen Einigungen«, um bei seiner NGO-Stiftung am Zürisee nach dem Rechten zu sehen. Irgendwas ist da faul mit den Bilanzen. K2, Chef eines internationalen Lebensmittelkonzerns, weiß bestens, dass Kapitalismus heute »nachhaltig« zu sein und der Schein dafür unbedingt gewahrt werden muss. Sozusagen um jeden Preis.
Ich-Erzählerin Eve verrät uns eingangs über ihre Qualifikation: »Die Rolle des Vermittlers erfordert hohe Ambiguitätstoleranz und interkulturelle Kompetenzen. Meine Methode folgt im weitesten Sinne der systemischen Theorie, setzt also auf Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten. Die vertraulichen Einzelsitzungen zur Konsensfindung leite ich mit einer Grundsatzfrage ein. Möchtest du Invalidenrente? Eine Win-win-Situation, besonders aufgrund der geringen Bürokratie.« Ansonsten hat sie noch eine Bootcamp Instructor A-Lizenz und einige Pokale von den Europäischen Muai-Thai-Meisterschaften.
K2 übrigens steht für Kunde 2 – und nicht für Kumpel 2, wie sie sich sagt, als der ihr plötzlich das Du anbietet. Sie »schluckt das untergejubelte Du wie eine miese Klausel im Vertrag«. Auf dem Weg zur Stiftung soll sie noch ein wenig Geld waschen. Was tut man nicht für fettes Bargeld-Honorar?

In dieser Geldwelt trägt Mann eine Hentschel Hamburg Hafenmeister mit Saphirglas am Handgelenk, fährt ein 300 SLR Uhlenhaut Coupé oder einen Range Rover Autobiography, »Monarch unter den SUVs, 200.000 Franken die Karre«, und weiß, dass der American-Shelby-Knoten einer Krawatte leichte Schlagseite gibt. Als Frau weiß man unter anderem, dass ein gepolsterter Büstenhalter von La Perla günstiger ist als eine Brust-OP, kann einen Toast bestreichen »wie Anne-Sophie Mutter ihre Geige« und jederzeit den Gesichtsausdruck zwischen Jungfrau und Callgirl wechseln lassen. Ein Lächeln kann da mal nur mit Mikroskop noch als solches erkennbar sein, ein anderes Mal an Schlitz eines Bankautomaten oder an den Lockruf einer fleischfressenden Pflanze erinnern.
»Politik mit Slingpumps«, nennt Ehefrau Helena den von ihr gewählten Stil. Ihr Ehemann, der Banker und Stiftungsvorstand Karnofsky, schlingt »den Lachs hinunter wie ein Krokodil«. Ihre Zwillingtöchter Lara und Laura haben die Unechtheit von Kinderstars – man darf an Kubricks »Shining« denken und sich fragen, warum man sich statt Kindern nicht besser Reptilien angeschafft hätte. In diesem Haus am Zürisee muss Eve Klein Quartier beziehen. Und wir sind ganz nah dabei. Das Leben ist eine Realityshow ohne vernünftigen Schnitt, heißt es auf Seite 63.

Ehe wird im Hause Karnofsky ausgeübt wie ein Beruf. Jeder weiß: das Leben ist ein konstanter Sinkflug. Mit Geld kann man eine Weile geradeaus fliegen. Eheschließung ist eine Beschlussfassung, kein spontanes Gefühl. Je weniger die Vertrauensbildung funktioniert, desto mehr »gewinnt die Darstellung nach außen an Wichtigkeit. Führung des Unternehmens vom Markt her«, nennt man das. Was Kentucky Fried Chicken mit toten Hühnern schafft, sollte auch miserablen Paarbeziehungen gelingen, findet Eve.

Überhaupt die Paare. Wie Sybille Ruge übers Beziehungsballett ätzt kann sich neben Dorothy Parkers New Yorker Sottisen und Dashiell Hammetts party crashing im »Dünnem Mann« absolut sehen lassen. Umarmungen beim Charity Event dürfen »weder Make-up noch Frisur verrutschen lassen, Ohrringe durften sich nicht verhaken, und Hautkontakt musste vermieden werden. Sah aus wie deutsches Tanztheater, tiefsinnig und gestelzt«. Small Talk beginnt mit Sätzen wie »Wie geht es Deutschland? Gehorchen alle noch?« Und ist Eve allein mit einem Paar, wird sie angesehen, als würde auf eine Kleinkunstdarstellung gewartet. »Es ist eine bekannte Tatsache, dass Paare krampfig nach Inputs von außen fahnden, als wäre man monatelang zu zweit auf dem Meer und freue sich, wenn mal ein Delphin auftaucht.«
Naturbetrachterin sei sie keine, sagt Eve Klein einmal, trotzdem hat sie einen Blick dafür. Da hängen die Wolken »wie Ufos über der Villa«, wirft ein »Abendrot die letzten Fetzen Gold über uns«. Da »pinselt die herunter gefallene Sonne die Gesichter rot«.
Da liegt der See wie eine riesige Plastikfolie, ein anderes Mal »stehen die Wellen auf«. Golfen und Natur ist für Eve wie Petting mit einer Gummipuppe. Ätzendes auch zum Kunstbetrieb. Eve dazu: »Kunst kaufte ich mir auf Socken. Ich hatte Van-Gogh-Socken. Monet-Socken und Mondrian-Socken.« Die Kunsthändlerin Mascha Harvensteen fachsimpelt mit ihr über die Spekulation mit Werten: »Die meisten Künstler halten sich für kreativ, aber die eigentliche Kreation ist es, den Geldfluss in Balance zu halten. Der Markt hat sich den Verstand rausgekickt …“

Sybille Ruge ist – wenn sie nicht Romane, Hörspiele oder Gedichte schreibt – Stoffentwicklerin in der Textilindustrie, dies high end, für Haute couture und Abgefahrenes. (Ich durfte einmal schon in ihre Musterbücher schauen. Es war: wow!) Kleider, Outfits und Mode kann sie vernichtend beschreiben, scheut aber auch Praktisches nicht: »Ein Fettfleck auf einer Krawatte ist Ewigkeit. Seide gibt Fett nicht mehr her.« Die Beinchen einer höheren Tochter stecken »in Stiefeln, als wäre eine Ziege in zwei Melkeimer gelatscht«. Magst du auch Gosse und Jetset, fragt das magersüchtige Girlie, »ich finde das extrem poetisch«. Und weiter: »Ich kotze das Geld meiner Eltern.«
Sybille Ruge kennt ihren Heiner Müller, kennt die DDR und die großen Zuschneidbögen des Kapitalismus. In dieser Welt werden (nicht nur) Burger zerfleischt, nicken sich (nicht nur) Taxifahrer und Gast stumm bei der Geldübergabe zu, hat ein Blumenstrauß »den überschwänglichen Duft einer Kranzniederlegung«, ist »Elementary« ein Puff in einem Industriegebiet und Romantik die Steigerung von Unaufrichtigkeit. Hier rollt der Stau wie Lava auf das Wochenende zu und ergreift die Oberschicht Partei für die Abgehängten, solange die Sicherheitsanlagen funktionieren. Wir hören Gesprächsfetzen wie: »Profitiert Bühler von der Krise? Nein. Er hat vorher schon Millionen gemacht.« Oder: »Firma? Irgendwas mit Drohnen. Autonome Systeme oder so.«

Einen Raum betritt man mit einer »Wolke aus Mandelpudding, vom Hersteller sicher mit Eleganz und Sinnlichkeit beschrieben. Parfum ist Kampf um Raum«. Aussehen ist alles, sei es ein Typ mit abgezählten Augenbrauen, regelmäßig gepflegtem Vollbart oder ein Kommissar mit Gottfried-Keller-Gesicht. Ein anderer hat Augenbrauen wie ein aufgeklebtes Pelztoupet und die Haare zur Glatze getrimmt, ein sympathischer Polizist wirkt »wie ein verschwommener Charakter, der aussah, als wäre er gerade durch die 80er geschlendert«. Männer kommen bei Sybille Ruge etwas besser weg als Frauen. Aber nicht viel. Immerhin verführen sie Eve Klein manchmal zum Knittelvers: »Wer andern eine Bratwurst brät, hat wohl ein Bratwurstbratgerät.« Auch für so etwas ist Platz. Und dann ist da noch die Medusa überm Villeneingang: »Du siehst sie an, peng, bist du Stein. Ein gutes Mittel um deine Feinde in Ruhe zu betrachten.«

Alf Mayer / Foto: © emotional gallery/Suhrkamp Verlag
Sybille Ruge: 9mm Cut. Roman.
Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
Klappenbroschur, 230 S., 17 €.

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