Aus der Traum
»A Most Violent Year« von J.C. Chandor
Es ist bitterkalt im New York des Jahres 1981, in dem J.C. Chandors neuer Film spielt. Eine eisige Kälte durchzieht nicht nur die Straßen des Big Apple, sie scheint auch in die mannigfaltigen ethnischen Gruppierungen und selbst in die Seelen eines jeden New Yorkers einzudringen. 1981 ist als »most violent year«, als das Jahr mit der höchsten Kriminalrate, in die Stadthistorie eingegangen.
In dieser von Misstrauen und Härte gekennzeichneten Stimmungslage versucht ein Mann sein mittelständisches Heizöl-Unternehmen zu konsolidieren und zu erweitern. Abel Morales heißt dieser Mann, von Oscar Isaac (»Inside Llewyn Davis«) als stolzer Emporkömmling gespielt, fleißig und risikobereit, tough, aber anständig. Ein perfekter Mann der 80er, der sein Geschäft, an dem noch einige zwielichtige bis kriminelle Machenschaften haften, in die Respektabilität führen will. Ein Mann, der unter allen Umständen mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern in der oberen Mittelschicht Fuß fassen will. Mister American Dream nennt ihn seine Frau, und man weiß nicht, wie sie das meint: anerkennend oder abfällig.
Nichts Geringeres als die Anatomie des amerikanischen Traums versucht J.C. Chandor zu beschreiben. Er durchleuchtet präzise die immer noch faszinierende Überzeugung, dass der Tüchtige alles erreichen kann in Amerika, legal und gegen alle Chancen. Wie in seinen bisherigen Filmen »Der große Crash – Margin Call« und dem Robert-Redford-Solo »All Is Lost« zeigt Chandor dabei den bitteren, illusionslosen Existenzkampf eines einzelnen Mannes, die Auseinandersetzung mit seiner Umgebung, aber vor allem auch mit sich selbst.
Abel Morales mit seinen lateinamerikanischen Wurzeln, der es tatsächlich zu etwas bringen will, ohne dass Blut an seinen Händen klebt, verirrt sich schnell und hoffnungslos im Asphaltdschungel New Yorks. Die erbitterten Konkurrenten, die starren Gewerkschaften, eine Staatsanwaltschaft, deren Chef an die eigene Karriere denken muss, sie alle bilden ein Netz, in dem sich der kleine Ölbaron Morales verheddert. Wie Chandor das feine Räderwerk eines extremen Kapitalismus schildert, das erinnert manchmal gar an das Theater Bert Brechts. Ganz amerikanisch und ungemein spannend wirkt schließlich, wie Protagonist Morales im Mechanismus dieses Systems zwischen Nutznießer, Opfer und Rebell oszilliert.
Am aufregendsten ist der Film freilich in der Schilderung der Ehe von Morales und seiner Frau Anna, die von Jessica Chastain gespielt wird, einem von Hollywoods zur Zeit gefragtesten Stars. Ist sie, die blond-glamouröse, unendlich coole Tochter eines Gangsters die ultimative Lady Macbeth der 80er, die den Machismo ihres Mannes oft genug provoziert, oder ist sie die urbane Neuausgabe einer Pionierfrau aus dem Wilden Westen?
Der stilisierte Look von Chandors Film, der Kälte und Kargheit betont, verweist auf eine manchmal zu offensichtliche Vermischung von Sinnlichkeit, Analyse und Reflexion. Dieser Stil der Leere und Tristesse zeigt aber auch auf beklemmende, großartige Weise, dass der amerikanische Traum immer mit dem amerikanischen Albtraum verknüpft sein kann, mit einem Trip, der den Glücksritter in die Düsternis führt.